Sonntag, 17. April 2011

Kapitel 11 - Teil 2

Ich betrete das mir mittlerweile vertraute Gebäude, von dem ich wünschte, dass es mir viel fremder wäre und gehe auf die Empfangsdame zu. Erneut wird mir die mir unerwünschte Vertrautheit bewusst, denn als die junge Frau mich sieht, nickt sie mir einfach nur zu, lächelt und beugt sich dann wieder über ihre Unterlagen. Natürlich kennt sie mich. Nicht, weil ich Bill Kaulitz, der Sänger von Tokio Hotel bin – oder war? – sondern weil ich hier bereits so oft ein und ausgegangen bin, dass eine Anmeldung einfach nicht mehr nötig ist. Auch ich kenne die junge Frau bereits. Und noch mehr kenne ich. Den Gesichtsausdruck und den Blick, mit dem sie mich eben angesehen hat. Mitleid.
Seitdem bei uns alles in die Brüche gegangen und mein Leben aus dem Ruder gelaufen ist, sehe ich diese Blicke ständig. Ob ich die Menschen kenne oder nicht – sobald sie mich erkennen, mischt sich Mitleid in ihre Mienen. Ich hasse das.
Es geht sie nichts an. Es macht nichts besser. Und im Grunde bedeutet es nichts.

Ohne weitere Gedanken daran zu verschwenden, drehe ich und bewege mich nun schnellen Schrittes auf die Aufzüge zu. Davor warten bereits zwei Personen und als ich den Aufzug erreiche, öffnet sich dieser gerade und zum Vorschein kommt ein junger Krankenpfleger, der sich zusammen mit einem Patienten im Rollstuhl bereits in der Kabine befindet und offensichtlich auch nicht vor hat hier auszusteigen.
Kurzentschlossen wähle ich die Treppen und während ich zwei Stufen auf einmal nehmend nach oben eile, beginnt mein Herz zu rasen. Und das nicht nur, weil ich eine unterirdisch schlechte Kondition habe. Bereits nach wenigen Minuten habe ich Gustavs Zimmer erreicht und als ich die Hand auf die Klinke lege, verlässt mich fast der Mut. Erneut sehe ich die Bilder aus meinem Traum. Sehe wie die Stecker sämtlicher Geräte aus der Wand fliegen. Doch dann gebe ich mir einen Ruck und trete ein.

Gustav hat bereits Besuch. Es sind tatsächlich seine Eltern, die links und rechts an seinem Bett sitzen und nun beide die Köpfe heben und mich ansehen. Es liegt keine Wut in ihren Blicken. Ich bin mir nicht mal sicher, ob sie wirklich wahrnehmen, wer vor ihnen steht.
Für eine kleine Ewigkeit bleibt mein Herz stehen, denn ich habe Angst, dass bereits heute der Tag der Entscheidung sein soll. Ihre Blicke deuten zumindest darauf hin.
„Hallo Bill“, sagt Gustavs Mutter nach ein paar weiteren verstrichenen Augenblicken im Flüsterton. Ihre Stimme ist trocken. Sie klingt rau wie Schmirgelpapier und vollkommen leblos. Das jagt mir eine Heidenangst ein. „Setz dich zu uns“, höre ich nun die Stimme ihres Mannes. Sie ist natürlich tiefer, doch sonst unterscheiden sich beide Stimmen kaum voneinander.
Wie automatisch, als wäre es gar nicht ich, der handelt, nehme ich mir einen weiteren Stuhl, ziehe ihn ans Fußende des Bettes und setze mich.
„Ich muss mit euch reden. Bitte. Es ist sehr wichtig.“
Meine Stimme klingt fremd und wieder scheint es so, als wäre es nicht ich, der dort spricht. Denn ich habe das Gefühl, dass ich kein Wort rausbekommen könnte. Doch anscheinend hat mein anderes Ich Mut und Zuversicht, denn meine Stimme ist fest und entschlossen, als ich weiterspreche.

Kapitel 11 - Teil 1


„Deutsche Bankgemeinschaft Hamburg, Meisner, was kann ich für Sie tun?“, meldet sich eine freundliche Stimme am anderen Ende der Leitung. „Guten Tag... hier .. hier ist..“, ich zögere kurz, ewig habe ich meinen Namen nicht genannt. „Hier ist Bill Kaulitz, ich hätte gerne einen Termin zur Beratung bei Ihnen.“

Kurz darauf habe ich einen Beratungstermin für die kommende Woche und den ersten Schritt meines Planes. Ich habe nicht viele Pläne, aber ein paar Dinge stehen immer noch fest. Ich muss Gustav und irgendwie auch Tom retten, damit ich wieder ein einigermaßen normales Leben führen kann. Ich  kann nicht mehr so leben, wie ich es die letzten 10 Monate tue, kann nicht mehr trostlos in meine Zukunft sehen. Ich muss leben. Ich will, dass sie leben und das es ihnen gut geht. So, wie sie es verdient haben.

Eine halbe Stunde später hält der Bus vor der Uniklinik, in der Gustav liegt. Ich hasse es hier zu sein und es wird sich nie ändern, aber ich hoffe so sehr, dass ich seine Eltern treffe. So sehr, dass ich alle Ängste vergesse, meinen Freund dort wieder im Koma liegen zu sehen und mir vorzustellen, dass es nie wieder gut werden würde.

Montag, 7. Februar 2011

Eigentlich eine Schande..

Seit genau 213 Tagen ist hier Nichts passiert und dabei war es so ein tolles Projekt.
Was tun? Zeit für was Neues? Alles nochmal lesen und weiterschreiben? Nie wieder schreiben? Blog schließen? Liebe?

Freitag, 9. Juli 2010

Kapitel 10

"Verschwinde. Bill, VERSCHWINDE einfach! Tu es, wie es dein Bruder getan hat! Hau ab, du kannst es eh nicht ändern. Meinst, du könntest alles wieder gut machen mit ein paar Scheinchen, alles, was er agerichtet hat. Angerichtet... Zerstört ... Es wird ihn nicht aufwecken! .. Woher ich das weiß??"
Wie in Zeitlupe sehe ich die Stecker der Reihe nach aus der Wand fliegen, wie der eine noch an sein Bein schlägt dabei und langsam und immer deutlicher das regelmäßige Piepen aussetzt.
Schnell reiße ich mich aus dem Schlaf. Wie immer, wenn man das Gefühl hat, man kann in Träume eingreifen, wenn sie gerade an der schlimmsten Stelle sind. Wenn man gerade merkt, man träumt, dann kann man alles kontrollieren. Wacht auf, liegt im Bett und hört sein eigenes Herz schnell schlagen. Ich sitze im Bett, weiß nicht, was ich tun soll. Ich hatte geträumt, wie ich Gustavs Vater all das Geld von Toms Konto auf den Tisch gelegt habe, den Arzt dazuholte und verlangte, sie sollten ihn wieder aufwecken, mit irgendwelchen höchsttechnologischen Methoden. Ich hatte doch keine Ahnung. Aber es ging einfach nicht. Es geht nicht. Man kann Menschen nicht aufwecken, das müssen sie schon selbst tun.
Ich stehe auf, durch das Fenster am Fußende meines Bettes scheint der Mond. Vollmond. Ich laufe durch mein Zimmer und suche ein Glas Wasser. Ich finde keines. Ich gehe in die Küche, schalte nebenbei das Flurlich an, das flackernd ums Überleben kämpft. Ich setze mich hin und trinke. Sitze an meinem Küchentisch, im Licht einer alten Nachttischlampe. In der Küche gibt es sonst noch kein Licht. Ich sitze an meinem kahlen Esstisch, mitten in der Küche, breite die Zettel aus dem Umschlag, den ich gestern noch erhalten hatte, vor mir aus und versuche, mich einfach zu beruhigen. Einfach zu atmen, ohne mich von dem durchdringenden Pochen aus der Ruhe bringen zu lassen. Gerade, wenn es so ruhig um mich herum ist, kann ich es lauter hören, als hätte ich selbst das Ohr an meiner Brust.
Es gibt Situationen im Leben, da ist einfach nicht klar, was zu erst kommen muss. Da hat man einfach mehreres zu tun, dringendes. Aber was, wenn in der Zeit, in der man A erledigt, B unmöglich wird, kaputt geht? Was, wenn aber B klappt, A aber einfach zerstört wird? Weil man einfach zu lange gewartet hat. Weil es einfach nicht geht.
Die Frage ist, ob eines der beiden Dinge vom anderen abhängig ist. Muss Gustav leben, damit ich Tom finde? Muss ich Tom finden, damit Gustav leben kann? Vielleicht klingt die erste Frage etwas brutal, aber ich muss darüber nachdenken. Warum geht es nicht parallel? Andere Frage - niemand von uns könnte damit leben, den einen unserer besten Freunde zu verlieren; könnte ich mir verzeihen, irgendeine Möglichkeit, ihn zu retten, nicht wahrgenommen zu haben??
Warum kann nicht alles ein böser Traum sein? Warum kann nicht das alte Leben, das ich solange lebte, einfach wieder einsetzen, wenn ich ganz bald aufwache? Warum nicht? Wer ist das, der mir alles nahm? Wer hat mir meine Band, meinen Beruf, meine Freunde, meine Familie, meinen Zwilling genommen? Warum? Verdammte Kacke. Ich beschließe, erst mal ins Bett zu gehen, versuchen, zu schlafen.
Die Vögel wecken mich morgens, nachdem ich gefühlte 15 Minuten geschlafen habe. Immerhin scheinen sie hoffnungsvoll in den Tag zu gehen. Aber meine Rangliste steht jetzt wirklich fest. An allererste Stelle steht natürlich das Leben. Ganz egal wo, Tom lebt. Und Gustav auch. Aber er muss vor allem überleben. Das Problem - ich kann nichts tun. Trotzdem, mein erster Punkt auf der Tagesordnung ist, ihn zu besuchen, möglicherweise seine Familie zu erwischen, einfach irgendwie mit ihnen ins Gespräch zu kommen, zu versuchen, ihnen irgendwie Hoffnung zu geben. Sie dürfen nicht falsch entscheiden. Ich muss Zeit gewinnen. Danach werde ich dann einen Spaziergang machen und ein kleines Telefonat führen. _____________________________________________________

Einen neuen Hund hat Franzi gekauft. Ich hab mit ihr gesprochen, hab ihr erzählt, wie ich voran komme, mit dem Haus, ich hab natürlich nicht die ganze Wahrheit gesagt, die Veranda sei schon fertig. Sie war froh, das zu hören. Und das zeigt mir, sie gibt auch nicht auf. Denkt vielleicht darüber nach, dass es Gustav freuen würde. Vielleicht. Ich weiß es nicht. Auf jeden Fall hat sie mir erzählt, wie sie gestern Mittag geschlafen hat und dann aufgewacht ist und etwas geträumt hat, wie sie im Krankenhaus an seinem Bett säße und Gustav die Augen öffnete und sagte, er wolle einen neuen Hund, einen großen. Und als sie dann aufwachte, ging sie zum Tierheim und kaufte einen. Es läuft alles über Träume.
Naja, das ganze hat mich positiv gestimmt. Wir haben verabredet, uns nun öfters zusammen an sein Bett zu setzen, etwas zu reden, über alles, was es interessantes gibt. Ganz sicher, sie kann es nicht mehr haben, es läuft schon so ewig so und wir alle gehen daran zugrunde. Vielleicht hat mich der nächtliche Traum doch irgendwie umgestimmt, mir einen funken Hoffnung gegeben. Was soll ich auch verzweifeln? Im Selbstmitleid baden? Was soll es bringen? Ich kann es versuchen, kann versuchen, etwas zu erreichen. Und das werde ich jetzt.
Ich gehe den gleichen Weg, wie auch schon gestern. Zum Park in der Nähe unserer Wohnung. Oder alten Wohnung, wie auch immer. Am Wegesrand stehen einige Telefonzellen, grüne Telefonzellen, wieso sie grün sind, weiß ich auch nicht. Ich krame in meiner Tasche. Ich habe vor, heute etwas länger unterwegs zu sein und habe so auch ein bisschen was an Essen und Trinken eingepackt. Wer weiß, wie man sonst an sowas rankommt. Als ich den Briefumschlag gefunden habe, öffne ich die Telefonzelle, vor der ich eben stehen geblieben bin und gehe rein. von hier aus habe ich früher schon immer telefoniert, wenn ich nicht wollte, dass der, den ich anrief, weiß, wo ich bin.
Ich öffne das Formular der Banken, suche im Briefkopf nach der Nummer und wähle. Und es tutet und ich weiß, dass es klappt.

Donnerstag, 27. Mai 2010

Kapitel 9

Es ist nicht passiert. Wirklich nicht. Ich hebe den Umschlag an und halte ihn direkt vor meine Augen. Dann drehe und wende ich ihn ein paar Mal. Es besteht kein Zweifel – der Umschlag ist verschlossen und der Inhalt bisher nicht gelesen worden, seitdem sein Absender ihn in diesen Umschlag geschoben und feinsäuberlich verschlossen hat. Wie perplex starre ich nun auf diesen kleinen, nicht weiter spannend aussehenden Papierumschlag.
„Ganz ruhig jetzt, Bill. Wenn der Brief zu ist, dann ist Tom nicht krank. Dann befindet er sich auch nicht in einer Klinik und dann wurde er auch nicht entführt und für tot erklärt oder was für eine kranke Scheiße in diesem Traum noch passiert wäre, wenn du länger geträumt hättest. Du hast keinerlei Nachricht erhalten, dass es Tom in irgendeiner Weise nicht gut geht“, flüstere ich ganz leise vor mich hin. Die Worte wirklich mit den Ohren aufzunehmen und sie dann vom Hirn verarbeiten zu lassen ist vielleicht effektiver als sie nur zu denken.
„Wie kommt mein Hirn überhaupt auf so eine Entführungsscheiße á la Maffiaverschwörung?!“ Ich erschrecke mich leicht, denn nach meiner kleinen Rede an mich selbst, mit der ich mich beruhigen wollte, war ich in ein grübelndes Schweigen verfallen. Ich hatte nicht beabsichtigt diese Worte überhaupt laut auszusprechen. Schon gar nicht in dieser Lautstärke.
Ich blicke auf und sehe, dass eine Frau mit einem kleinen Mädchen an der Hand mich empört anstarrt, während die kleine mich ganz offensichtlich interessiert und mit einem schiefen Grinsen auf dem Gesicht mit großen runden Augen anschaut.
„Tschuldigung“, murmel ich zerknirscht und schenke dem kleinen Mädchen ein Lächeln. Sie ist wirklich süß und scheint komplett unvoreingenommen. Ganz im Gegensatz zu der Frau, dessen Hand sie hält. Diese schaut mich nur noch weiterhin entrüstet an und ich kann förmlich hören, was sie gerade denkt.
Es wird sich um die Begriffe „diese jungen Menschen“, „verrückt“, „bestimmt Drogen genommen“ oder auch „vielleicht aus der Klinik am anderen Ende das Parks“, „hier draußen“, „kein guter Umgang“, „sie wird später nie allein durch diesen Park im Dunkeln gehen“ handeln. Da bin ich mir sicher.
Die junge Frau zieht das Kind nun mit sich weiter und versucht mit der Kleinen über irgendeinen Vogel dahinten auf der Wiese zu reden. Sie ist vermutlich in dem Alter, in dem das Sprechen gerade erst kommt. Das kleine Mädchen tappst brav mit der Mama mit, interessiert sich jedoch überhaupt nicht für diesen dämlichen Vogel, der in 50Metern Entfernung über die Wiese hüpft. Stattdessen dreht sie sich wieder zu mir um und grinst mich noch einmal mit diesem niedlichen Grinsen an. Ich lächel zurück. Dieses Mal ist es ein echtes Lächeln.
Ich merke es, weil es sich vollkommen ungewohnt, aber nicht erzwungen anfühlt. Mit meinem Blick liegt vermutlich etwas Schuldgefühl. Ich habe der Kleinen vermutlich das Leben als Heranwachsende ein wenig schwieriger gemacht, da ihre Mutter sie nicht abends in den Park lassen wird, wenn sie noch mal in die Stadt gehen möchte oder vielleicht den Park als Abkürzung auf dem Weg zu Freunden benutzen möchte.
Aber was soll’s?! So eine Herausforderung, wegen der man sich dann ordentlich mit den Eltern streiten kann, braucht man ja auch.

Die beiden biegen nun an der nächsten Weggabelung ab und verschwinden aus meinem Blickfeld. Plötzlich muss ich an meinen Bruder und mich denken. An die Zeit, als wir so klein waren wie das kleine Mädchen, kann ich mich natürlich nur bruchstückhaft erinnern. Aber plötzlich fallen mir Szenen aus unserer Kindergartenzeit ein.
Obwohl wir schon immer viel Scheiße angestellt haben, waren wir immer zusammen und haben uns gemeinsam dem Ärger der Kindergärtnerin und später dem unserer Mutter gestellt. Meistens, wenn wir anfingen zu weinen, weil wir angemeckert wurden, haben wir uns bis zum nächsten Morgen gemeinsam in einem unserer Zimmer verkrochen.
Mann, diese Zeit war, jetzt als Erinnerung betrachtet, so scheiß idyllisch – einem könnte glatt schlecht werden. Alles schien nach einer kleinen heilen Welt von zwei kleinen, rebellischen und unzertrennlichen Jungs, die jeden Tag kein größeres Ziel hatten, als ihre Kindergärtnerin auf die Palme zu bringen.
Später war es auch noch so. Nur dass die Leute, die Opfer unserer Rebellion gegen alles wurden, sich immer wieder änderten.
Mittlerweile ist das nicht mehr so. In diesem Moment hätte ich gerne diese Zeit wieder. Auch wenn man in diesem Alter Sorgen hat, die für einen kleinen Menschen mindestens genauso groß sind wie die Sorgen, mit denen sich die großen Leute rumschlagen. Ich würde jetzt trotzdem gern tauschen…
Ich reiße mich mit Zwang aus diesen melancholischen Gedanken. Wer weiß, sonst muss ich vielleicht wirklich noch vor lauter Idylle kotzen.
Meine Aufmerksamkeit gilt also nun wieder diesem kleinen, um einen mir unbekannten Inhalt gefalteten Stück Papier in meinen Händen.
Es ist alles nicht passiert. Du weißt überhaupt nicht, was darin ist. Das ist gut, dass das nicht passiert ist.
Doch die Erleichterung wird jäh von einer kleinen Welle der Panik begraben. Jetzt geht das Ganze von vorne los. Ich muss jetzt sozusagen wieder den Brief öffnen. Wieder mit größter Anspannung lesen, was ich darin finde und ich habe keinerlei Ahnung, was es sein wird.
Was, wenn der Inhalt noch schlimmer ist als das, was ich eben geträumt habe?
Aber mal ehrlich – wie kann der Inhalt noch schlimmer sein? Mein Zwillingsbruder todkrank entführt und für tot erklärt. Ich soll ihn retten und habe keine Ahnung wo er sein könnte.
Also bitte. Schlimmer geht es wohl nicht. Oder?    
Die Angst bleibt bestehen. Ich will diesen Brief eigentlich gar nicht öffnen.
Die Schrift auf dem Umschlag ist eindeutig von Tom. Eine Nachricht von ihm. Reicht es nicht zu wissen, dass er mir von irgendwo Nachrichten schicken kann?
Für den Moment reicht es. Ich stehe auf und stecke den Brief in meine Jackentasche, wobei ich ihn weiterhin festhalte, um ihn die ganze Zeit zwischen meinen Fingern spüren zu können. Langsam gehe ich los. Schritt für Schritt entferne ich mich von dieser alten braunen Bank, die sicherlich schon viel erlebt hat. Leute, die Pause machen. Leute, die glücklich sind. Leute, die verzweifelt sind. Leute, die nur sie als Bett benutzen können.
Ab jetzt ist es ein Mensch mehr, von dessen Leben sie einen Teil mitbekommen hat.
 Das Ende des Parks dürfte, sobald ich um die nächste Biegung gehe, die noch ca. 200 Meter entfernt vor mir liegt, langsam in Sicht kommen. Dann werden die Geräusche des Alltags mit jedem Schritt wieder lauter werden. Die Motorengeräusche. Das Hupen der Autos. Fahrradklingeln. Alles untermalt von einem monotonen, beinahe bedrohlich wirkenden Gemurmel der sich voranschiebenden Menschenmassen. Nur selten hebt sich eine laute Stimme gegen die Masse ab und schafft es aus ihr hervorzustechen. Mein Ziel wird das Gegenteil sein. Ich werde wieder versuchen müssen in der Masse unterzugehen. Unsichtbar zu werden.
Was ist der nächste Schritt? Ich muss Gustav helfen. Meinen Freund davor bewahren, dass seine Eltern ihm die Chance gewähren noch einmal sein Haus zu betreten, das jetzt nicht mehr von der Gefahr des Abrisses bedroht wird.
Das steht bereits fest. Weiterhin steht bereits fest, dass ich dafür aus meiner Starre erwachen und endlich wieder aktiv werden muss. Ich darf mich nicht mehr in dem Strom der Zeit und des Alltags treiben lassen, sondern muss anfangen zu schwimmen, um dahin zu kommen, wo ich hin will. Ich weiß noch nicht so recht, wie ich es anstelle zu schwimmen und wie ich an mein Ziel gelange. Aber immerhin weiß ich, dass ich schwimmen will und dass ich wieder ein Ziel habe.
Außerdem steht auch fest, dass ich meinen Bruder mit in dieses Vorhaben verknüpfen muss. Ich weiß es einfach tief in meinem Inneren, ohne dass ich sagen könnte, warum ich es weiß.
Jetzt bin ich gleich an der Biegung – 50m noch und dann nach der Kurve werde ich die Straße schon sehen. Hören kann ich sie bisher noch nicht. Vertieft in Überlegungen über mein nächstes Handeln setze ich einen Fuß vor den anderen.
Es gibt die Lebenseinstellung, dass man immer zunächst einmal handeln solle und im Nachhinein dann erst Überlegungen anstellen sollte, ob diese Handlung gut oder schlecht war und was man für die Zukunft daraus lernen kann. Vielleicht sollte ich das tun?
Ich lausche in mich rein. Leider habe ich keinen instinktiven Einfall. Da bleibt dann wohl doch wieder nur das Überlegen.
Plötzlich bleibe ich wie angewurzelt stehen. Mein Inneres wurde von einem Gedankenblitz durchzuckt. Vielmehr von einer Vorstellung.
Allerdings hat das nicht annähernd mit einer Lösung meines Problems zu tun. Angst durchfährt mich und innerhalb weniger Sekunden bildet sich kalter Schweiß auf meiner Stirn und meine Hände werden feucht. Ich umklammere den Brief in meiner Jackentasche und zerknittere ihn unweigerlich dadurch.
Ja, das ist ein Brief von Tom in meiner Tasche. Es ist eindeutig seine Schrift. Aber heißt ein Brief von Tom automatisch, dass er am Leben ist, egal was drin steht? Es ist doch immer wieder so, dass Menschen bei einem Anwalt oder Notar Briefe hinterlegen, die die Adressaten erst nach dem Tode erreichen sollen.
Mir wird schlecht. Dieser Gedanke kam wie aus dem Nichts, hat mich durchzuckt und mich innerlich verkrampfen lassen.
Kein guter Plan vorhin. Ich MUSS diesen Brief von Tom lesen. Sich einzureden, es würde schon halbwegs gut um ihn stehen, wenn er mir einen Brief zukommen lassen kann, ist Schwachsinn. Totaler Quatsch.
Mit zwei großen Schritten gelange ich zu einer Bank, die dicht vor der Abbiegung zum Ausgang des Parks jedem noch einmal die letzte Möglichkeit bietet in diesem Park vor dem Alltag und Lärm geschützt und versteckt zu bleiben.
Wieder sitze ich auf einer Bank. Wieder ziehe ich den Umschlag hervor.
Nachdem ich kurz auf die Schrift gestarrt habe, die schnell vor meinen Augen zu verschwimmen begonnen hat, drehe ich den Brief entschlossen um und öffne ihn. Ich werde diesen Brief jetzt ohne zu zögern lesen. Ich brauche Gewissheit.
Bevor ich in den Umschlag greife, kneife ich mir noch einmal kurz, aber fest in den Arm.
Aua! Scheiße, das war wirklich fest. Aber es tut weh. Alles bleibt unverändert. Es ist dieses Mal also kein Traum.
Jetzt ziehe ich den Inhalt des Umschlags hervor. Es sind zwei gefaltete Blätter.
Ich entfalte das obere Blatt und sehe mit dem Computer geschriebene säuberliche Schrift. Mit Briefkopf  und allem drum und dran, was einen offiziellen Brief ausmacht.
Ich hasse offizielle Schreiben. Kurzentschlossen lasse ich es in meinen Schoß zu dem nun leeren Umschlag fallen und entfalte das zweite Blatt.
Endlich. Es ist ein handschriftlicher Brief. Seine Schrift. Mein Name in der Anrede. Das werde ich zuerst lesen. War die Reihenfolge der Blätter wichtig? Sollte ich zunächst dieses offizielle Schreiben lesen oder war es einfach Zufall, dass es beim Öffnen vorne steckte?
Mir egal. Ich will den Brief. Den Brief von ihm an mich.

Mein lieber Bill!    
Fing der Brief im Traum nicht auch mit diesem Wortlaut an? Tom hat Briefe an mich, wenn er mir denn mal einen geschrieben hat, oft so angefangen. Wenn er Briefe schrieb, war es ihm wichtig und meistens etwas Sentimentales. So etwas fängt man dann wohl so an.


Ich hätte mich viel früher bei dir melden sollen. Ich weiß. „Hätte“ und „sollte“ sind sowieso die Wörter, die mein Leben und meine Gedanken derzeit bestimmen.
Ich habe es bisher nicht geschafft, mich nicht getraut, mich bei dir zu melden. Ich habe viel falsch gemacht. Eigentlich habe ich zum Ende hin wohl alles falsch gemacht.
Zum Ende hin?! Mir wird jetzt endgültig richtig schlecht. Ich zittere. Aber ich lese weiter.

Vermutlich siehst du es nach dieser Sache auch mit als größten Fehler an, dass ich gegangen bin. Ich würde es an deiner Stelle auf jeden Fall tun. Denken, dass ich dich allein und im Stich gelassen habe. Vielleicht habe ich das auch – aber nur mit dem Wissen, dass es anders nicht geht. Ich konnte nicht bleiben. Ich war geschockt über das, was passiert ist. Bin es immer noch. Geschockt, dass ich es war, der das alles verursacht hat. Der Schuld an der ganzen Sache ist.
Ich wollte nicht, dass noch mehr passiert. Dass am Ende dir auch noch etwas passiert.
Außerdem konnte ich niemandem mehr in die Augen sehen. Dir nicht, Mum und Gorden nicht, Andi und Georg nicht. Erst recht nicht Gustavs Eltern oder Franziska.
Ich hätte den Mut haben müssen für das Geschehene einzustehen, die Verantwortung zu tragen und dann anfangen müssen mich zu ändern. Mein Leben wieder auf die richtige Bahn zu leiten mit dem Wissen der Schuld. Ich konnte nicht.
Ich musste fliehen. Ich weiß nicht, ob es Feigheit, Selbstschutz oder Schutz der Menschen, die ich liebe, vor mir selbst war. Wahrscheinlich alles zusammen.
Bill, ich will mich ändern. Natürlich hat mich das Geschehene wachgerüttelt. Viel zu spät – das weiß ich. Dennoch hat es mich wachgerüttelt und ich weiß, dass es so nicht weitergehen kann und ich will nicht, dass es so weitergeht.
Aber ich muss das alleine machen.
Du hast allen Grund der Welt sauer auf mich und enttäuscht von mir zu sein. Alle anderen genauso – du aber wahrscheinlich doch am meisten.
Trotzdem weiß ich, dass du mir – egal wie groß deine Wut wäre – zu helfen versucht hättest. Du hättest versucht mir zu helfen mich zu ändern. Weil du einfach Bill bist. Du würdest mich nicht fallen lassen und wenn ich auch noch so scheiße bin.
Genau das wollte ich aber nicht. Was ich getan habe ist unverzeihlich und das Mindeste, was ich tun kann, ist, dass ich diesen Weg nun allein gehe. Dass ich mich nicht mehr bei dir oder jemand anderem blicken lasse bis ich die ganze Scheiße nicht endgültig hinter mir gelassen habe.
Deswegen bin ich weg.
Ich schreibe dir nun aus zwei Dingen. Einmal, weil ich möchte, dass du weißt, dass ich dabei bin mich zu ändern, dass ich weiß, was ich getan habe und diese Schuld immer mit mir tragen werde und dass ich dich liebe und brauche wie das nur bei einem Zwillingsbruder der Fall sein kann. Dass es mir Leid tut, was ich auch dir angetan habe.
Der zweite Grund ist ein banaler und bürokratischer Grund. Die Wohnung. Unsere Wohnung. Ich weiß nicht, ob du überhaupt noch dort geblieben bist – deswegen weiß ich nicht mal, ob der Brief dich erreichen wird. Wenn er dich jedoch erreicht, dann möchte ich, dass du die zwei beiliegende Schreiben unterschreibst.
Kurz unterbreche ich das Lesen und hebe den Kopf. Ich greife mit Daumen und Zeigefinger nach dem Schreiben in meinem Schoß und reibe leicht. Tatsächlich – es sind zwei Blätter, die ineinander gefaltet worden sind. Weiter.

Das eine Schreiben ist die Überschreibung der Wohnung an dich. Es war schon immer unsere Wohnung und in der Inneneinrichtung steckt dein Herzblut. Ich könnte nachvollziehen, wenn du dort nicht bleiben möchtest – doch dann sollst du wenigstens frei über sie verfügen können.
Es ist alles beglaubigt. Es fehlt nur noch deine Unterschrift, dann gehört sie dir.
Ich habe kein Anrecht auf diese Wohnung.
Das zweite Schreiben ist auch eine Überschreibung. Für den Großteil meiner Konten.
Keine Angst (wenn du sie denn überhaupt haben solltest), ich behalte meine normale EC-Karte und ein Konto mit Rücklagen, die ich brauche, wenn ich mich selbst erneuern will. Ich will aber nur noch das, was ich für diese Erneuerung brauche. Mehr nicht.
Deswegen sollst du den ganzen Rest haben. Du kannst damit machen, was du willst. Wenn du es nicht behalten willst, kannst du es verschenken, spenden oder es die auszahlen und aus dem Fenster auf die Straße regnen lassen. Ganz egal. Aber entscheide du, was damit passiert.
Ich will mich ändern, Bill. Wirklich. Ich will auch wieder zurückkommen, wenn ich es geschafft habe. Du fehlst mir sehr. Die anderen auch.
Aber natürlich liegt es nicht an mir, ob ich wieder zu dir stoßen kann.
Du bist derjenige, der das Recht hat darüber zu entscheiden. Ich weiß nicht, ob du mir verzeihen kannst. Wenn es an der Zeit ist, möchte ich zu dir kommen und dich darum bitten. Dann kannst du urteilen und ich werde es so akzeptieren müssen.
Willst du es von vornerein nicht, schreib bitte an den Notar, der auch die Überschreibungen beglaubigt hat. Die Adresse steht ja auf den beiden Schreiben.
Ich hoffe sehr, dass du mir eines Tages verzeihen kannst.
Such mich nicht, um mir doch beizustehen. Ich muss da alleine durch. Mir geht es in dem Sinne gut, dass ich gesundheitlich – abgesehen davon – wohl auf bin.  Dass ich nicht mehr mit dir zusammen sein kann, ist wohl auch eine Art der Strafe, die es zur Heilung benötigt.
Sollte aber etwas mit dir sein – solltest du meine Hilfe brauchen und wollen, weil es dir schlecht geht – dann wirst du mich finden. Das weiß ich.
Dann wirst du es schaffen mich ausfindig zu machen. Doch durch einfaches Nachfragen wird der Notar dir nichts sagen. Nur wenn du wirklich meine Hilfe brauchst – dann findest du einen Weg zu mir.


Pass bitte auf dich auf, Kleiner.
Dein Bruder Tom

Heilige Scheiße. Mein Kopf scheint jeden Moment explodieren zu können. So viele Gedanken sausen in ihm umher. Ich falte Toms Brief zusammen und stecke ihn gut weg, damit ihm ja nichts geschehen kann. Dann nehme ich in jede Hand eines der Schreiben, schüttele sie auseinander, starre sie an – und mein Kopf summt weiter.
Tom geht es gut. Er wird sich ändern.
Ein Strahlen stiehlt sich plötzlich in mein Gesicht und ich kann nicht anders als laut zu lachen. Ich sitze da und lache. Vor Erleichterung. Vor Glück. Weil er keine Krankheit hat. Weil er wohl auf zu sein scheint. Weil er sich ändern will.
Nach einer Minute des lauten Lachens verstumme ich plötzlich wieder.
Gustav ist nicht wohl auf. Gustav liegt weiterhin im Koma und seine Eltern haben vor die Geräte ausschalten zu lassen. Gustav rennt die Zeit davon und ich muss etwas tun.
Ich kann das innere Gefühl nicht abschütteln, dass ich mein Ziel auf gewisse Weise nur mit Tom erreichen kann.Welche Rolle mein Bruder bei dem Versuch Gustav zurückzuholen spielen wird, weiß ich nicht.
Aber Scheiße. Ich brauche seine Hilfe. Ob er das auch unter diesen Fall, in dem ich ihn suchen soll, zählt, weiß ich nicht. Das ist mir auch egal.Ich will wissen wo er ist.
Auch wenn ich noch nicht weiß, wie er mir helfen kann Gustav zu helfen.
Wie finde ich ihn? Wie rette ich Gustav? Wie kann man verhindern, dass seine Eltern…
Wie, wie, wie – unendlich viele „wies“ kreisen in meinem Kopf umher.
Feststeht, dass ich etwas tun muss. Endlich anfangen muss etwas zu tun, um nicht letztendlich doch nur dazusitzen und zu überlegen. Und vermutlich immer noch über ein „wie?!“ nachdenke, während im Krankenhaus jemand zu den Geräten geht, um sie nach der langen Zeit der Arbeit auszuschalten.
Ich muss also handeln und zwar jetzt. Die einzige Idee, die ich habe – zu der es wenigstens einen kleinen Anhaltspunkt gibt – ist die Suche nach meinem Bruder.
Vermutlich brauche ich dazu Geld und viel Ausdauer. Beides werde ich aufbringen.
Ich muss einen neuen Lebensabschnitt beginnen. Die Suche nach meinem Bruder.
Ein Ausschnitt aus dem größeren Lebensabschnitt „Gustav retten“.  Wiederum ein Teil der Mission „mach dein Leben wieder lebenswert, Bill Kaulitz“. 

Ich blicke zur Biegung. Dahinter liegt die Straße. Die Straße, auf der es keinen Stillstand gibt.

Mittwoch, 26. Mai 2010

Kapitel 8

Unfähig mich zu rühren stehe ich auf der Veranda und blicke in den Garten. Noch eben hatte ich die Stimme von Tom gehört. Seine Worte hallen unaufhörlich und zusammenhangslos in meinem Kopf umher. Krankenhaus. tot. umbringen. rausholen.
Meine Gedanken kreisen wie wild, ich kann keinen klaren Gedanken fassen. Oh Gott. Oh Gott. OH GOTT! Ich weiß einfach nicht, was ich tun soll.
Weiß ja nicht einmal, was sich bei Tom in den letzten Monaten abgespielt hat. Alles, was ich weiß ist, dass ich etwas tun muss. Sofort. Auf der Stelle. "Alle denken ich bin tot. Du musst mich hier rausholen..".

Ich versuche die Ereignisse der letzten Tage in irgendeiner Weise in Zusammenhang zu bringen. Erstens, mein bester Freund liegt seit Monaten im Koma. Zweitens, mein eigener Zwillingsbruder hat den "Unfall" verursacht, weswegen Gustav in diesem Zustand ist. Drittens, ich habe Tom seit diesem Tag nicht wiedergesehen. Viertens, mein Zwillingsbruder hat eine Krankheit an der er sterben könnte. Fünftens, aus irgendeinem Grund denkt irgendwer er sei tot und ich sollte ihn nun "da raus holen". Sechstens, ich habe keine Ahnung, wie ich zugleich Gustav und Tom retten sollte. Ich werde noch verrückt. Ich brauche einen Plan. Einen Plan, mit dem ich sowohl Gustav als auch Tom helfen konnte. Einen Plan, bei dem das Ergebnis alle Beteiligten zufrieden stellte und wir eine Chance darauf hatten, eines Tages wieder glücklich zu sein.

Zuerstmal nehme ich mir vor schlafen zu gehen, denn ausgeschlafen denkt es sich doch am Besten. Oder? Ich kuschele mich ins Bett und war kurz danach eingeschlafen.

Mitten in der Nacht wache ich durch ein Geräusch vor der Haustür auf. Ich lausche und als
es weg ist stehe ich auf und öffne die Haustür. Beim Anblick der Tageszeitung wundere ich mich, denn es ist erst 3Uhr morgens. Ich nehme sie mit rein, setze mich die Zeitung aufblätternd aufs Bett und blättere durch. Ich blättere wild umher, so, wie ich es oft tue, um überhaupt irgendwelche Neuigkeiten zu bekommen. Ich stutze plötzlich. Wie konnte das sein? Ich kann nicht atmen, kann mich nicht bewegen. Kriege keine Luft. Die Schrift auf die ich blicke ist Folgende.

Heute ist der 27.April. Ich sinke zusammen, verstehe die Welt nicht mehr. Verstehe Nichts mehr. Ich springe auf und übergebe mich. Immer wieder kommen die Krämpfe, die meinen ganzen Köper erzittern lassen. Ich weine und schreie. Wer zur Hölle tut so was? Ich beginne um mich zu schlagen. . .

Ich wache auf einer Bank auf. Meine linke Hand blutet, ich habe mich an der Bank verletzt, auf der ich halb hänge. Oh gott, tut das weh! Ich sehe mich um und verstehe Nichts mehr. Hier saß ich. Aber.. Hier hatte ich mich hingesetzt, um Toms Brief zu lesen. Zu lesen, dass mein Bruder vielleicht sterben müsste, weil er krank war. Bevor ich mit ihm sprach und..
moment. Ich glaube.. Wie kann das sein? Ich hatte das Alles nur geträumt? Der Blick auf mein Handy verriet mir, dass ich hier anscheinend eingeschlafen sein musste. Die Anstrengung der letzten Tage hatten mich geschafft.

Heißt das, Tom ist vielleicht nicht krank? Ich blicke auf den Umschlag. Er ist geschlossen.

Samstag, 22. Mai 2010

Kapitel 7

Wählen, anrufen, Tuten hören, Panik kriegen, auflegen - wer kennt es nicht. Es ist Abend, ich sitze auf der Veranda, beobachte die ewigen Grüntöne - ja, jetzt gerade nerven sie mich. Vielleicht eine innere Rebellion gegen den 'neuen' Bill? - und ich sitze hier schon seit Stunden. Erst habe ich es einfach versucht. Ich hab das Telefon genommen und gewählt. Und dann kam der Moment, in dem mich das alles so gepackt hat. Ich hab vorher gar nicht weiter darüber nachgedacht, was jetzt passieren wird. Doch, natürlich habe ich darüber nachgedacht, aber nachdem ich von der Wohnung hier her gelaufen war, war mein Kopf ein Stück weit befreit und ich wusste einfach, dass ich das jetzt in die Hand nehmen muss. Ich wusste, dass es doch gar keinen Sinn hat, es alles so lange aufzuschieben. Und was passiert jetzt? - Richtig, ich schiebe es auf! Ich hab es nie weiter als bis zum zweiten Tuten geschafft, zu groß ist die Sorge, er könne ja womöglich rangehen. Verdammte Kacke. Warum muss ich das eigentlich hier machen? ER ist der, der den Mist gebaut hat. Mist.. Den RIESIGEN Mist. Aber.. ER ist auch der, der genauso Hilfe braucht. Welcher Form auch immer. Irgendwie hat mich der Brief innerlich jetzt so umgestimmt, dass ich weiß, dass auch ich ein Stück weit auf ihn zugehen muss. Nicht, weil es meine Pflicht als Bruder wäre, sondern weil ich es will. Weil ich will, dass es ihm gut geht. Ich will das. Und trotzdem sitz ich hier und bekomme gar nichts auf die Reihe.. Mann, ich bin ein Idiot.

Telefon klingelt. Es klingelt?


"Ja? .. Bill hier?"

"Bill..". Eine kleine, zerbrechliche Stimme. Und jetzt kommt es alles zusammen. Ja, ich konnte es gerade stundenlang unterdrücken, aber seine Stimme - SEINE Stimme, die so furchtbar klein aber doch noch so sehr nach ihm klingt - lässt mir die Tränen in die Augen schießen. Ich weiß nicht, wie lange ich nichts mehr von ihm gehört habe, also wirklich gehört. Für mich war er monatelang das große Arschloch, aber die Tatsache, dass er erstens irgendeine Krankheit hat, die ihn möglicherweise bis nächsten Sommer umbringt und zweitens, dass ich ihn noch nie so lange nicht gesehen, gehört oder überhaupt irgendetwas von ihm mitbekommen habe, lässt mich für einen Moment vergessen, was er getan hat.


"Tom? ..", frage ich unsinniger Weise.
"Bill, du weißt, dass ich es bin.". Irgendwie ist das gerade ein bisschen viel für mich, aber ich reiße mich zusammen, auch wenn es schwer fällt. Außerdem bin ich immer noch der, der sauer sein darf. Oder?

"Tom, wo bist du, verdammt? .. Glaubst du eigentlich, du kannst einfach so verschwinden? Glaubst du ehrlich, du kannst einfach abhauen und das Schlachtfeld dalassen, dass du so einfach angerichtet hast? Glaubst du, es wird so einfach wieder gut?!", immer schneller sprudeln die Worte so aus meinem Mund, ohne groß darüber nachzudenken.

Und er schweigt.
Und schweigt.
Und schweigt.

"Wie geht es dir?", frage ich leise, "Wo bist du? Tom, sag bitte was." Wenn ich bloß wissen würde, was ich von ihm erwarte. Ich werde niemals Verständnis dafür aufbringen können, was er getan hat, niemals. Und trotzdem habe ich eine so unglaubliche Sorge in mir, mir könnte so bald ein Mensch unglaublichen Wertes aus dem Leben gerissen werden und ich hätte all die Zeit verschwendet.

Und er schweigt immer noch. Und dann ist da so ein Rauschen, ein Rascheln. Irgendwas passt nicht. "Tom, die Leitung.. Bist du noch da?" Wie wenn der Empfang gestört ist, hört man immer ganz kurz was und dann wird es wieder abgehackt. "Bi - hill - .. ", mehr versteh ich nicht. Und dass ich Bill heiße, weiß ich. Dann gehts aber weiter und irgendwie kann ich aus den Bruchstücken etwas verstehen. "Bill, du musst mich holen. Die halten mich hier fest. Ich komm nicht raus! Ich muss leise sein, sonst bin ich gleich das Handy los und die hauen mich weg. Alle denken, ich wär tot! Die hätten mich umgebracht. Aus der Klinik entführt und umgebracht! Bill, hol mich hier ra-" - Leitung tot.