Freitag, 9. Juli 2010

Kapitel 10

"Verschwinde. Bill, VERSCHWINDE einfach! Tu es, wie es dein Bruder getan hat! Hau ab, du kannst es eh nicht ändern. Meinst, du könntest alles wieder gut machen mit ein paar Scheinchen, alles, was er agerichtet hat. Angerichtet... Zerstört ... Es wird ihn nicht aufwecken! .. Woher ich das weiß??"
Wie in Zeitlupe sehe ich die Stecker der Reihe nach aus der Wand fliegen, wie der eine noch an sein Bein schlägt dabei und langsam und immer deutlicher das regelmäßige Piepen aussetzt.
Schnell reiße ich mich aus dem Schlaf. Wie immer, wenn man das Gefühl hat, man kann in Träume eingreifen, wenn sie gerade an der schlimmsten Stelle sind. Wenn man gerade merkt, man träumt, dann kann man alles kontrollieren. Wacht auf, liegt im Bett und hört sein eigenes Herz schnell schlagen. Ich sitze im Bett, weiß nicht, was ich tun soll. Ich hatte geträumt, wie ich Gustavs Vater all das Geld von Toms Konto auf den Tisch gelegt habe, den Arzt dazuholte und verlangte, sie sollten ihn wieder aufwecken, mit irgendwelchen höchsttechnologischen Methoden. Ich hatte doch keine Ahnung. Aber es ging einfach nicht. Es geht nicht. Man kann Menschen nicht aufwecken, das müssen sie schon selbst tun.
Ich stehe auf, durch das Fenster am Fußende meines Bettes scheint der Mond. Vollmond. Ich laufe durch mein Zimmer und suche ein Glas Wasser. Ich finde keines. Ich gehe in die Küche, schalte nebenbei das Flurlich an, das flackernd ums Überleben kämpft. Ich setze mich hin und trinke. Sitze an meinem Küchentisch, im Licht einer alten Nachttischlampe. In der Küche gibt es sonst noch kein Licht. Ich sitze an meinem kahlen Esstisch, mitten in der Küche, breite die Zettel aus dem Umschlag, den ich gestern noch erhalten hatte, vor mir aus und versuche, mich einfach zu beruhigen. Einfach zu atmen, ohne mich von dem durchdringenden Pochen aus der Ruhe bringen zu lassen. Gerade, wenn es so ruhig um mich herum ist, kann ich es lauter hören, als hätte ich selbst das Ohr an meiner Brust.
Es gibt Situationen im Leben, da ist einfach nicht klar, was zu erst kommen muss. Da hat man einfach mehreres zu tun, dringendes. Aber was, wenn in der Zeit, in der man A erledigt, B unmöglich wird, kaputt geht? Was, wenn aber B klappt, A aber einfach zerstört wird? Weil man einfach zu lange gewartet hat. Weil es einfach nicht geht.
Die Frage ist, ob eines der beiden Dinge vom anderen abhängig ist. Muss Gustav leben, damit ich Tom finde? Muss ich Tom finden, damit Gustav leben kann? Vielleicht klingt die erste Frage etwas brutal, aber ich muss darüber nachdenken. Warum geht es nicht parallel? Andere Frage - niemand von uns könnte damit leben, den einen unserer besten Freunde zu verlieren; könnte ich mir verzeihen, irgendeine Möglichkeit, ihn zu retten, nicht wahrgenommen zu haben??
Warum kann nicht alles ein böser Traum sein? Warum kann nicht das alte Leben, das ich solange lebte, einfach wieder einsetzen, wenn ich ganz bald aufwache? Warum nicht? Wer ist das, der mir alles nahm? Wer hat mir meine Band, meinen Beruf, meine Freunde, meine Familie, meinen Zwilling genommen? Warum? Verdammte Kacke. Ich beschließe, erst mal ins Bett zu gehen, versuchen, zu schlafen.
Die Vögel wecken mich morgens, nachdem ich gefühlte 15 Minuten geschlafen habe. Immerhin scheinen sie hoffnungsvoll in den Tag zu gehen. Aber meine Rangliste steht jetzt wirklich fest. An allererste Stelle steht natürlich das Leben. Ganz egal wo, Tom lebt. Und Gustav auch. Aber er muss vor allem überleben. Das Problem - ich kann nichts tun. Trotzdem, mein erster Punkt auf der Tagesordnung ist, ihn zu besuchen, möglicherweise seine Familie zu erwischen, einfach irgendwie mit ihnen ins Gespräch zu kommen, zu versuchen, ihnen irgendwie Hoffnung zu geben. Sie dürfen nicht falsch entscheiden. Ich muss Zeit gewinnen. Danach werde ich dann einen Spaziergang machen und ein kleines Telefonat führen. _____________________________________________________

Einen neuen Hund hat Franzi gekauft. Ich hab mit ihr gesprochen, hab ihr erzählt, wie ich voran komme, mit dem Haus, ich hab natürlich nicht die ganze Wahrheit gesagt, die Veranda sei schon fertig. Sie war froh, das zu hören. Und das zeigt mir, sie gibt auch nicht auf. Denkt vielleicht darüber nach, dass es Gustav freuen würde. Vielleicht. Ich weiß es nicht. Auf jeden Fall hat sie mir erzählt, wie sie gestern Mittag geschlafen hat und dann aufgewacht ist und etwas geträumt hat, wie sie im Krankenhaus an seinem Bett säße und Gustav die Augen öffnete und sagte, er wolle einen neuen Hund, einen großen. Und als sie dann aufwachte, ging sie zum Tierheim und kaufte einen. Es läuft alles über Träume.
Naja, das ganze hat mich positiv gestimmt. Wir haben verabredet, uns nun öfters zusammen an sein Bett zu setzen, etwas zu reden, über alles, was es interessantes gibt. Ganz sicher, sie kann es nicht mehr haben, es läuft schon so ewig so und wir alle gehen daran zugrunde. Vielleicht hat mich der nächtliche Traum doch irgendwie umgestimmt, mir einen funken Hoffnung gegeben. Was soll ich auch verzweifeln? Im Selbstmitleid baden? Was soll es bringen? Ich kann es versuchen, kann versuchen, etwas zu erreichen. Und das werde ich jetzt.
Ich gehe den gleichen Weg, wie auch schon gestern. Zum Park in der Nähe unserer Wohnung. Oder alten Wohnung, wie auch immer. Am Wegesrand stehen einige Telefonzellen, grüne Telefonzellen, wieso sie grün sind, weiß ich auch nicht. Ich krame in meiner Tasche. Ich habe vor, heute etwas länger unterwegs zu sein und habe so auch ein bisschen was an Essen und Trinken eingepackt. Wer weiß, wie man sonst an sowas rankommt. Als ich den Briefumschlag gefunden habe, öffne ich die Telefonzelle, vor der ich eben stehen geblieben bin und gehe rein. von hier aus habe ich früher schon immer telefoniert, wenn ich nicht wollte, dass der, den ich anrief, weiß, wo ich bin.
Ich öffne das Formular der Banken, suche im Briefkopf nach der Nummer und wähle. Und es tutet und ich weiß, dass es klappt.

Donnerstag, 27. Mai 2010

Kapitel 9

Es ist nicht passiert. Wirklich nicht. Ich hebe den Umschlag an und halte ihn direkt vor meine Augen. Dann drehe und wende ich ihn ein paar Mal. Es besteht kein Zweifel – der Umschlag ist verschlossen und der Inhalt bisher nicht gelesen worden, seitdem sein Absender ihn in diesen Umschlag geschoben und feinsäuberlich verschlossen hat. Wie perplex starre ich nun auf diesen kleinen, nicht weiter spannend aussehenden Papierumschlag.
„Ganz ruhig jetzt, Bill. Wenn der Brief zu ist, dann ist Tom nicht krank. Dann befindet er sich auch nicht in einer Klinik und dann wurde er auch nicht entführt und für tot erklärt oder was für eine kranke Scheiße in diesem Traum noch passiert wäre, wenn du länger geträumt hättest. Du hast keinerlei Nachricht erhalten, dass es Tom in irgendeiner Weise nicht gut geht“, flüstere ich ganz leise vor mich hin. Die Worte wirklich mit den Ohren aufzunehmen und sie dann vom Hirn verarbeiten zu lassen ist vielleicht effektiver als sie nur zu denken.
„Wie kommt mein Hirn überhaupt auf so eine Entführungsscheiße á la Maffiaverschwörung?!“ Ich erschrecke mich leicht, denn nach meiner kleinen Rede an mich selbst, mit der ich mich beruhigen wollte, war ich in ein grübelndes Schweigen verfallen. Ich hatte nicht beabsichtigt diese Worte überhaupt laut auszusprechen. Schon gar nicht in dieser Lautstärke.
Ich blicke auf und sehe, dass eine Frau mit einem kleinen Mädchen an der Hand mich empört anstarrt, während die kleine mich ganz offensichtlich interessiert und mit einem schiefen Grinsen auf dem Gesicht mit großen runden Augen anschaut.
„Tschuldigung“, murmel ich zerknirscht und schenke dem kleinen Mädchen ein Lächeln. Sie ist wirklich süß und scheint komplett unvoreingenommen. Ganz im Gegensatz zu der Frau, dessen Hand sie hält. Diese schaut mich nur noch weiterhin entrüstet an und ich kann förmlich hören, was sie gerade denkt.
Es wird sich um die Begriffe „diese jungen Menschen“, „verrückt“, „bestimmt Drogen genommen“ oder auch „vielleicht aus der Klinik am anderen Ende das Parks“, „hier draußen“, „kein guter Umgang“, „sie wird später nie allein durch diesen Park im Dunkeln gehen“ handeln. Da bin ich mir sicher.
Die junge Frau zieht das Kind nun mit sich weiter und versucht mit der Kleinen über irgendeinen Vogel dahinten auf der Wiese zu reden. Sie ist vermutlich in dem Alter, in dem das Sprechen gerade erst kommt. Das kleine Mädchen tappst brav mit der Mama mit, interessiert sich jedoch überhaupt nicht für diesen dämlichen Vogel, der in 50Metern Entfernung über die Wiese hüpft. Stattdessen dreht sie sich wieder zu mir um und grinst mich noch einmal mit diesem niedlichen Grinsen an. Ich lächel zurück. Dieses Mal ist es ein echtes Lächeln.
Ich merke es, weil es sich vollkommen ungewohnt, aber nicht erzwungen anfühlt. Mit meinem Blick liegt vermutlich etwas Schuldgefühl. Ich habe der Kleinen vermutlich das Leben als Heranwachsende ein wenig schwieriger gemacht, da ihre Mutter sie nicht abends in den Park lassen wird, wenn sie noch mal in die Stadt gehen möchte oder vielleicht den Park als Abkürzung auf dem Weg zu Freunden benutzen möchte.
Aber was soll’s?! So eine Herausforderung, wegen der man sich dann ordentlich mit den Eltern streiten kann, braucht man ja auch.

Die beiden biegen nun an der nächsten Weggabelung ab und verschwinden aus meinem Blickfeld. Plötzlich muss ich an meinen Bruder und mich denken. An die Zeit, als wir so klein waren wie das kleine Mädchen, kann ich mich natürlich nur bruchstückhaft erinnern. Aber plötzlich fallen mir Szenen aus unserer Kindergartenzeit ein.
Obwohl wir schon immer viel Scheiße angestellt haben, waren wir immer zusammen und haben uns gemeinsam dem Ärger der Kindergärtnerin und später dem unserer Mutter gestellt. Meistens, wenn wir anfingen zu weinen, weil wir angemeckert wurden, haben wir uns bis zum nächsten Morgen gemeinsam in einem unserer Zimmer verkrochen.
Mann, diese Zeit war, jetzt als Erinnerung betrachtet, so scheiß idyllisch – einem könnte glatt schlecht werden. Alles schien nach einer kleinen heilen Welt von zwei kleinen, rebellischen und unzertrennlichen Jungs, die jeden Tag kein größeres Ziel hatten, als ihre Kindergärtnerin auf die Palme zu bringen.
Später war es auch noch so. Nur dass die Leute, die Opfer unserer Rebellion gegen alles wurden, sich immer wieder änderten.
Mittlerweile ist das nicht mehr so. In diesem Moment hätte ich gerne diese Zeit wieder. Auch wenn man in diesem Alter Sorgen hat, die für einen kleinen Menschen mindestens genauso groß sind wie die Sorgen, mit denen sich die großen Leute rumschlagen. Ich würde jetzt trotzdem gern tauschen…
Ich reiße mich mit Zwang aus diesen melancholischen Gedanken. Wer weiß, sonst muss ich vielleicht wirklich noch vor lauter Idylle kotzen.
Meine Aufmerksamkeit gilt also nun wieder diesem kleinen, um einen mir unbekannten Inhalt gefalteten Stück Papier in meinen Händen.
Es ist alles nicht passiert. Du weißt überhaupt nicht, was darin ist. Das ist gut, dass das nicht passiert ist.
Doch die Erleichterung wird jäh von einer kleinen Welle der Panik begraben. Jetzt geht das Ganze von vorne los. Ich muss jetzt sozusagen wieder den Brief öffnen. Wieder mit größter Anspannung lesen, was ich darin finde und ich habe keinerlei Ahnung, was es sein wird.
Was, wenn der Inhalt noch schlimmer ist als das, was ich eben geträumt habe?
Aber mal ehrlich – wie kann der Inhalt noch schlimmer sein? Mein Zwillingsbruder todkrank entführt und für tot erklärt. Ich soll ihn retten und habe keine Ahnung wo er sein könnte.
Also bitte. Schlimmer geht es wohl nicht. Oder?    
Die Angst bleibt bestehen. Ich will diesen Brief eigentlich gar nicht öffnen.
Die Schrift auf dem Umschlag ist eindeutig von Tom. Eine Nachricht von ihm. Reicht es nicht zu wissen, dass er mir von irgendwo Nachrichten schicken kann?
Für den Moment reicht es. Ich stehe auf und stecke den Brief in meine Jackentasche, wobei ich ihn weiterhin festhalte, um ihn die ganze Zeit zwischen meinen Fingern spüren zu können. Langsam gehe ich los. Schritt für Schritt entferne ich mich von dieser alten braunen Bank, die sicherlich schon viel erlebt hat. Leute, die Pause machen. Leute, die glücklich sind. Leute, die verzweifelt sind. Leute, die nur sie als Bett benutzen können.
Ab jetzt ist es ein Mensch mehr, von dessen Leben sie einen Teil mitbekommen hat.
 Das Ende des Parks dürfte, sobald ich um die nächste Biegung gehe, die noch ca. 200 Meter entfernt vor mir liegt, langsam in Sicht kommen. Dann werden die Geräusche des Alltags mit jedem Schritt wieder lauter werden. Die Motorengeräusche. Das Hupen der Autos. Fahrradklingeln. Alles untermalt von einem monotonen, beinahe bedrohlich wirkenden Gemurmel der sich voranschiebenden Menschenmassen. Nur selten hebt sich eine laute Stimme gegen die Masse ab und schafft es aus ihr hervorzustechen. Mein Ziel wird das Gegenteil sein. Ich werde wieder versuchen müssen in der Masse unterzugehen. Unsichtbar zu werden.
Was ist der nächste Schritt? Ich muss Gustav helfen. Meinen Freund davor bewahren, dass seine Eltern ihm die Chance gewähren noch einmal sein Haus zu betreten, das jetzt nicht mehr von der Gefahr des Abrisses bedroht wird.
Das steht bereits fest. Weiterhin steht bereits fest, dass ich dafür aus meiner Starre erwachen und endlich wieder aktiv werden muss. Ich darf mich nicht mehr in dem Strom der Zeit und des Alltags treiben lassen, sondern muss anfangen zu schwimmen, um dahin zu kommen, wo ich hin will. Ich weiß noch nicht so recht, wie ich es anstelle zu schwimmen und wie ich an mein Ziel gelange. Aber immerhin weiß ich, dass ich schwimmen will und dass ich wieder ein Ziel habe.
Außerdem steht auch fest, dass ich meinen Bruder mit in dieses Vorhaben verknüpfen muss. Ich weiß es einfach tief in meinem Inneren, ohne dass ich sagen könnte, warum ich es weiß.
Jetzt bin ich gleich an der Biegung – 50m noch und dann nach der Kurve werde ich die Straße schon sehen. Hören kann ich sie bisher noch nicht. Vertieft in Überlegungen über mein nächstes Handeln setze ich einen Fuß vor den anderen.
Es gibt die Lebenseinstellung, dass man immer zunächst einmal handeln solle und im Nachhinein dann erst Überlegungen anstellen sollte, ob diese Handlung gut oder schlecht war und was man für die Zukunft daraus lernen kann. Vielleicht sollte ich das tun?
Ich lausche in mich rein. Leider habe ich keinen instinktiven Einfall. Da bleibt dann wohl doch wieder nur das Überlegen.
Plötzlich bleibe ich wie angewurzelt stehen. Mein Inneres wurde von einem Gedankenblitz durchzuckt. Vielmehr von einer Vorstellung.
Allerdings hat das nicht annähernd mit einer Lösung meines Problems zu tun. Angst durchfährt mich und innerhalb weniger Sekunden bildet sich kalter Schweiß auf meiner Stirn und meine Hände werden feucht. Ich umklammere den Brief in meiner Jackentasche und zerknittere ihn unweigerlich dadurch.
Ja, das ist ein Brief von Tom in meiner Tasche. Es ist eindeutig seine Schrift. Aber heißt ein Brief von Tom automatisch, dass er am Leben ist, egal was drin steht? Es ist doch immer wieder so, dass Menschen bei einem Anwalt oder Notar Briefe hinterlegen, die die Adressaten erst nach dem Tode erreichen sollen.
Mir wird schlecht. Dieser Gedanke kam wie aus dem Nichts, hat mich durchzuckt und mich innerlich verkrampfen lassen.
Kein guter Plan vorhin. Ich MUSS diesen Brief von Tom lesen. Sich einzureden, es würde schon halbwegs gut um ihn stehen, wenn er mir einen Brief zukommen lassen kann, ist Schwachsinn. Totaler Quatsch.
Mit zwei großen Schritten gelange ich zu einer Bank, die dicht vor der Abbiegung zum Ausgang des Parks jedem noch einmal die letzte Möglichkeit bietet in diesem Park vor dem Alltag und Lärm geschützt und versteckt zu bleiben.
Wieder sitze ich auf einer Bank. Wieder ziehe ich den Umschlag hervor.
Nachdem ich kurz auf die Schrift gestarrt habe, die schnell vor meinen Augen zu verschwimmen begonnen hat, drehe ich den Brief entschlossen um und öffne ihn. Ich werde diesen Brief jetzt ohne zu zögern lesen. Ich brauche Gewissheit.
Bevor ich in den Umschlag greife, kneife ich mir noch einmal kurz, aber fest in den Arm.
Aua! Scheiße, das war wirklich fest. Aber es tut weh. Alles bleibt unverändert. Es ist dieses Mal also kein Traum.
Jetzt ziehe ich den Inhalt des Umschlags hervor. Es sind zwei gefaltete Blätter.
Ich entfalte das obere Blatt und sehe mit dem Computer geschriebene säuberliche Schrift. Mit Briefkopf  und allem drum und dran, was einen offiziellen Brief ausmacht.
Ich hasse offizielle Schreiben. Kurzentschlossen lasse ich es in meinen Schoß zu dem nun leeren Umschlag fallen und entfalte das zweite Blatt.
Endlich. Es ist ein handschriftlicher Brief. Seine Schrift. Mein Name in der Anrede. Das werde ich zuerst lesen. War die Reihenfolge der Blätter wichtig? Sollte ich zunächst dieses offizielle Schreiben lesen oder war es einfach Zufall, dass es beim Öffnen vorne steckte?
Mir egal. Ich will den Brief. Den Brief von ihm an mich.

Mein lieber Bill!    
Fing der Brief im Traum nicht auch mit diesem Wortlaut an? Tom hat Briefe an mich, wenn er mir denn mal einen geschrieben hat, oft so angefangen. Wenn er Briefe schrieb, war es ihm wichtig und meistens etwas Sentimentales. So etwas fängt man dann wohl so an.


Ich hätte mich viel früher bei dir melden sollen. Ich weiß. „Hätte“ und „sollte“ sind sowieso die Wörter, die mein Leben und meine Gedanken derzeit bestimmen.
Ich habe es bisher nicht geschafft, mich nicht getraut, mich bei dir zu melden. Ich habe viel falsch gemacht. Eigentlich habe ich zum Ende hin wohl alles falsch gemacht.
Zum Ende hin?! Mir wird jetzt endgültig richtig schlecht. Ich zittere. Aber ich lese weiter.

Vermutlich siehst du es nach dieser Sache auch mit als größten Fehler an, dass ich gegangen bin. Ich würde es an deiner Stelle auf jeden Fall tun. Denken, dass ich dich allein und im Stich gelassen habe. Vielleicht habe ich das auch – aber nur mit dem Wissen, dass es anders nicht geht. Ich konnte nicht bleiben. Ich war geschockt über das, was passiert ist. Bin es immer noch. Geschockt, dass ich es war, der das alles verursacht hat. Der Schuld an der ganzen Sache ist.
Ich wollte nicht, dass noch mehr passiert. Dass am Ende dir auch noch etwas passiert.
Außerdem konnte ich niemandem mehr in die Augen sehen. Dir nicht, Mum und Gorden nicht, Andi und Georg nicht. Erst recht nicht Gustavs Eltern oder Franziska.
Ich hätte den Mut haben müssen für das Geschehene einzustehen, die Verantwortung zu tragen und dann anfangen müssen mich zu ändern. Mein Leben wieder auf die richtige Bahn zu leiten mit dem Wissen der Schuld. Ich konnte nicht.
Ich musste fliehen. Ich weiß nicht, ob es Feigheit, Selbstschutz oder Schutz der Menschen, die ich liebe, vor mir selbst war. Wahrscheinlich alles zusammen.
Bill, ich will mich ändern. Natürlich hat mich das Geschehene wachgerüttelt. Viel zu spät – das weiß ich. Dennoch hat es mich wachgerüttelt und ich weiß, dass es so nicht weitergehen kann und ich will nicht, dass es so weitergeht.
Aber ich muss das alleine machen.
Du hast allen Grund der Welt sauer auf mich und enttäuscht von mir zu sein. Alle anderen genauso – du aber wahrscheinlich doch am meisten.
Trotzdem weiß ich, dass du mir – egal wie groß deine Wut wäre – zu helfen versucht hättest. Du hättest versucht mir zu helfen mich zu ändern. Weil du einfach Bill bist. Du würdest mich nicht fallen lassen und wenn ich auch noch so scheiße bin.
Genau das wollte ich aber nicht. Was ich getan habe ist unverzeihlich und das Mindeste, was ich tun kann, ist, dass ich diesen Weg nun allein gehe. Dass ich mich nicht mehr bei dir oder jemand anderem blicken lasse bis ich die ganze Scheiße nicht endgültig hinter mir gelassen habe.
Deswegen bin ich weg.
Ich schreibe dir nun aus zwei Dingen. Einmal, weil ich möchte, dass du weißt, dass ich dabei bin mich zu ändern, dass ich weiß, was ich getan habe und diese Schuld immer mit mir tragen werde und dass ich dich liebe und brauche wie das nur bei einem Zwillingsbruder der Fall sein kann. Dass es mir Leid tut, was ich auch dir angetan habe.
Der zweite Grund ist ein banaler und bürokratischer Grund. Die Wohnung. Unsere Wohnung. Ich weiß nicht, ob du überhaupt noch dort geblieben bist – deswegen weiß ich nicht mal, ob der Brief dich erreichen wird. Wenn er dich jedoch erreicht, dann möchte ich, dass du die zwei beiliegende Schreiben unterschreibst.
Kurz unterbreche ich das Lesen und hebe den Kopf. Ich greife mit Daumen und Zeigefinger nach dem Schreiben in meinem Schoß und reibe leicht. Tatsächlich – es sind zwei Blätter, die ineinander gefaltet worden sind. Weiter.

Das eine Schreiben ist die Überschreibung der Wohnung an dich. Es war schon immer unsere Wohnung und in der Inneneinrichtung steckt dein Herzblut. Ich könnte nachvollziehen, wenn du dort nicht bleiben möchtest – doch dann sollst du wenigstens frei über sie verfügen können.
Es ist alles beglaubigt. Es fehlt nur noch deine Unterschrift, dann gehört sie dir.
Ich habe kein Anrecht auf diese Wohnung.
Das zweite Schreiben ist auch eine Überschreibung. Für den Großteil meiner Konten.
Keine Angst (wenn du sie denn überhaupt haben solltest), ich behalte meine normale EC-Karte und ein Konto mit Rücklagen, die ich brauche, wenn ich mich selbst erneuern will. Ich will aber nur noch das, was ich für diese Erneuerung brauche. Mehr nicht.
Deswegen sollst du den ganzen Rest haben. Du kannst damit machen, was du willst. Wenn du es nicht behalten willst, kannst du es verschenken, spenden oder es die auszahlen und aus dem Fenster auf die Straße regnen lassen. Ganz egal. Aber entscheide du, was damit passiert.
Ich will mich ändern, Bill. Wirklich. Ich will auch wieder zurückkommen, wenn ich es geschafft habe. Du fehlst mir sehr. Die anderen auch.
Aber natürlich liegt es nicht an mir, ob ich wieder zu dir stoßen kann.
Du bist derjenige, der das Recht hat darüber zu entscheiden. Ich weiß nicht, ob du mir verzeihen kannst. Wenn es an der Zeit ist, möchte ich zu dir kommen und dich darum bitten. Dann kannst du urteilen und ich werde es so akzeptieren müssen.
Willst du es von vornerein nicht, schreib bitte an den Notar, der auch die Überschreibungen beglaubigt hat. Die Adresse steht ja auf den beiden Schreiben.
Ich hoffe sehr, dass du mir eines Tages verzeihen kannst.
Such mich nicht, um mir doch beizustehen. Ich muss da alleine durch. Mir geht es in dem Sinne gut, dass ich gesundheitlich – abgesehen davon – wohl auf bin.  Dass ich nicht mehr mit dir zusammen sein kann, ist wohl auch eine Art der Strafe, die es zur Heilung benötigt.
Sollte aber etwas mit dir sein – solltest du meine Hilfe brauchen und wollen, weil es dir schlecht geht – dann wirst du mich finden. Das weiß ich.
Dann wirst du es schaffen mich ausfindig zu machen. Doch durch einfaches Nachfragen wird der Notar dir nichts sagen. Nur wenn du wirklich meine Hilfe brauchst – dann findest du einen Weg zu mir.


Pass bitte auf dich auf, Kleiner.
Dein Bruder Tom

Heilige Scheiße. Mein Kopf scheint jeden Moment explodieren zu können. So viele Gedanken sausen in ihm umher. Ich falte Toms Brief zusammen und stecke ihn gut weg, damit ihm ja nichts geschehen kann. Dann nehme ich in jede Hand eines der Schreiben, schüttele sie auseinander, starre sie an – und mein Kopf summt weiter.
Tom geht es gut. Er wird sich ändern.
Ein Strahlen stiehlt sich plötzlich in mein Gesicht und ich kann nicht anders als laut zu lachen. Ich sitze da und lache. Vor Erleichterung. Vor Glück. Weil er keine Krankheit hat. Weil er wohl auf zu sein scheint. Weil er sich ändern will.
Nach einer Minute des lauten Lachens verstumme ich plötzlich wieder.
Gustav ist nicht wohl auf. Gustav liegt weiterhin im Koma und seine Eltern haben vor die Geräte ausschalten zu lassen. Gustav rennt die Zeit davon und ich muss etwas tun.
Ich kann das innere Gefühl nicht abschütteln, dass ich mein Ziel auf gewisse Weise nur mit Tom erreichen kann.Welche Rolle mein Bruder bei dem Versuch Gustav zurückzuholen spielen wird, weiß ich nicht.
Aber Scheiße. Ich brauche seine Hilfe. Ob er das auch unter diesen Fall, in dem ich ihn suchen soll, zählt, weiß ich nicht. Das ist mir auch egal.Ich will wissen wo er ist.
Auch wenn ich noch nicht weiß, wie er mir helfen kann Gustav zu helfen.
Wie finde ich ihn? Wie rette ich Gustav? Wie kann man verhindern, dass seine Eltern…
Wie, wie, wie – unendlich viele „wies“ kreisen in meinem Kopf umher.
Feststeht, dass ich etwas tun muss. Endlich anfangen muss etwas zu tun, um nicht letztendlich doch nur dazusitzen und zu überlegen. Und vermutlich immer noch über ein „wie?!“ nachdenke, während im Krankenhaus jemand zu den Geräten geht, um sie nach der langen Zeit der Arbeit auszuschalten.
Ich muss also handeln und zwar jetzt. Die einzige Idee, die ich habe – zu der es wenigstens einen kleinen Anhaltspunkt gibt – ist die Suche nach meinem Bruder.
Vermutlich brauche ich dazu Geld und viel Ausdauer. Beides werde ich aufbringen.
Ich muss einen neuen Lebensabschnitt beginnen. Die Suche nach meinem Bruder.
Ein Ausschnitt aus dem größeren Lebensabschnitt „Gustav retten“.  Wiederum ein Teil der Mission „mach dein Leben wieder lebenswert, Bill Kaulitz“. 

Ich blicke zur Biegung. Dahinter liegt die Straße. Die Straße, auf der es keinen Stillstand gibt.

Mittwoch, 26. Mai 2010

Kapitel 8

Unfähig mich zu rühren stehe ich auf der Veranda und blicke in den Garten. Noch eben hatte ich die Stimme von Tom gehört. Seine Worte hallen unaufhörlich und zusammenhangslos in meinem Kopf umher. Krankenhaus. tot. umbringen. rausholen.
Meine Gedanken kreisen wie wild, ich kann keinen klaren Gedanken fassen. Oh Gott. Oh Gott. OH GOTT! Ich weiß einfach nicht, was ich tun soll.
Weiß ja nicht einmal, was sich bei Tom in den letzten Monaten abgespielt hat. Alles, was ich weiß ist, dass ich etwas tun muss. Sofort. Auf der Stelle. "Alle denken ich bin tot. Du musst mich hier rausholen..".

Ich versuche die Ereignisse der letzten Tage in irgendeiner Weise in Zusammenhang zu bringen. Erstens, mein bester Freund liegt seit Monaten im Koma. Zweitens, mein eigener Zwillingsbruder hat den "Unfall" verursacht, weswegen Gustav in diesem Zustand ist. Drittens, ich habe Tom seit diesem Tag nicht wiedergesehen. Viertens, mein Zwillingsbruder hat eine Krankheit an der er sterben könnte. Fünftens, aus irgendeinem Grund denkt irgendwer er sei tot und ich sollte ihn nun "da raus holen". Sechstens, ich habe keine Ahnung, wie ich zugleich Gustav und Tom retten sollte. Ich werde noch verrückt. Ich brauche einen Plan. Einen Plan, mit dem ich sowohl Gustav als auch Tom helfen konnte. Einen Plan, bei dem das Ergebnis alle Beteiligten zufrieden stellte und wir eine Chance darauf hatten, eines Tages wieder glücklich zu sein.

Zuerstmal nehme ich mir vor schlafen zu gehen, denn ausgeschlafen denkt es sich doch am Besten. Oder? Ich kuschele mich ins Bett und war kurz danach eingeschlafen.

Mitten in der Nacht wache ich durch ein Geräusch vor der Haustür auf. Ich lausche und als
es weg ist stehe ich auf und öffne die Haustür. Beim Anblick der Tageszeitung wundere ich mich, denn es ist erst 3Uhr morgens. Ich nehme sie mit rein, setze mich die Zeitung aufblätternd aufs Bett und blättere durch. Ich blättere wild umher, so, wie ich es oft tue, um überhaupt irgendwelche Neuigkeiten zu bekommen. Ich stutze plötzlich. Wie konnte das sein? Ich kann nicht atmen, kann mich nicht bewegen. Kriege keine Luft. Die Schrift auf die ich blicke ist Folgende.

Heute ist der 27.April. Ich sinke zusammen, verstehe die Welt nicht mehr. Verstehe Nichts mehr. Ich springe auf und übergebe mich. Immer wieder kommen die Krämpfe, die meinen ganzen Köper erzittern lassen. Ich weine und schreie. Wer zur Hölle tut so was? Ich beginne um mich zu schlagen. . .

Ich wache auf einer Bank auf. Meine linke Hand blutet, ich habe mich an der Bank verletzt, auf der ich halb hänge. Oh gott, tut das weh! Ich sehe mich um und verstehe Nichts mehr. Hier saß ich. Aber.. Hier hatte ich mich hingesetzt, um Toms Brief zu lesen. Zu lesen, dass mein Bruder vielleicht sterben müsste, weil er krank war. Bevor ich mit ihm sprach und..
moment. Ich glaube.. Wie kann das sein? Ich hatte das Alles nur geträumt? Der Blick auf mein Handy verriet mir, dass ich hier anscheinend eingeschlafen sein musste. Die Anstrengung der letzten Tage hatten mich geschafft.

Heißt das, Tom ist vielleicht nicht krank? Ich blicke auf den Umschlag. Er ist geschlossen.

Samstag, 22. Mai 2010

Kapitel 7

Wählen, anrufen, Tuten hören, Panik kriegen, auflegen - wer kennt es nicht. Es ist Abend, ich sitze auf der Veranda, beobachte die ewigen Grüntöne - ja, jetzt gerade nerven sie mich. Vielleicht eine innere Rebellion gegen den 'neuen' Bill? - und ich sitze hier schon seit Stunden. Erst habe ich es einfach versucht. Ich hab das Telefon genommen und gewählt. Und dann kam der Moment, in dem mich das alles so gepackt hat. Ich hab vorher gar nicht weiter darüber nachgedacht, was jetzt passieren wird. Doch, natürlich habe ich darüber nachgedacht, aber nachdem ich von der Wohnung hier her gelaufen war, war mein Kopf ein Stück weit befreit und ich wusste einfach, dass ich das jetzt in die Hand nehmen muss. Ich wusste, dass es doch gar keinen Sinn hat, es alles so lange aufzuschieben. Und was passiert jetzt? - Richtig, ich schiebe es auf! Ich hab es nie weiter als bis zum zweiten Tuten geschafft, zu groß ist die Sorge, er könne ja womöglich rangehen. Verdammte Kacke. Warum muss ich das eigentlich hier machen? ER ist der, der den Mist gebaut hat. Mist.. Den RIESIGEN Mist. Aber.. ER ist auch der, der genauso Hilfe braucht. Welcher Form auch immer. Irgendwie hat mich der Brief innerlich jetzt so umgestimmt, dass ich weiß, dass auch ich ein Stück weit auf ihn zugehen muss. Nicht, weil es meine Pflicht als Bruder wäre, sondern weil ich es will. Weil ich will, dass es ihm gut geht. Ich will das. Und trotzdem sitz ich hier und bekomme gar nichts auf die Reihe.. Mann, ich bin ein Idiot.

Telefon klingelt. Es klingelt?


"Ja? .. Bill hier?"

"Bill..". Eine kleine, zerbrechliche Stimme. Und jetzt kommt es alles zusammen. Ja, ich konnte es gerade stundenlang unterdrücken, aber seine Stimme - SEINE Stimme, die so furchtbar klein aber doch noch so sehr nach ihm klingt - lässt mir die Tränen in die Augen schießen. Ich weiß nicht, wie lange ich nichts mehr von ihm gehört habe, also wirklich gehört. Für mich war er monatelang das große Arschloch, aber die Tatsache, dass er erstens irgendeine Krankheit hat, die ihn möglicherweise bis nächsten Sommer umbringt und zweitens, dass ich ihn noch nie so lange nicht gesehen, gehört oder überhaupt irgendetwas von ihm mitbekommen habe, lässt mich für einen Moment vergessen, was er getan hat.


"Tom? ..", frage ich unsinniger Weise.
"Bill, du weißt, dass ich es bin.". Irgendwie ist das gerade ein bisschen viel für mich, aber ich reiße mich zusammen, auch wenn es schwer fällt. Außerdem bin ich immer noch der, der sauer sein darf. Oder?

"Tom, wo bist du, verdammt? .. Glaubst du eigentlich, du kannst einfach so verschwinden? Glaubst du ehrlich, du kannst einfach abhauen und das Schlachtfeld dalassen, dass du so einfach angerichtet hast? Glaubst du, es wird so einfach wieder gut?!", immer schneller sprudeln die Worte so aus meinem Mund, ohne groß darüber nachzudenken.

Und er schweigt.
Und schweigt.
Und schweigt.

"Wie geht es dir?", frage ich leise, "Wo bist du? Tom, sag bitte was." Wenn ich bloß wissen würde, was ich von ihm erwarte. Ich werde niemals Verständnis dafür aufbringen können, was er getan hat, niemals. Und trotzdem habe ich eine so unglaubliche Sorge in mir, mir könnte so bald ein Mensch unglaublichen Wertes aus dem Leben gerissen werden und ich hätte all die Zeit verschwendet.

Und er schweigt immer noch. Und dann ist da so ein Rauschen, ein Rascheln. Irgendwas passt nicht. "Tom, die Leitung.. Bist du noch da?" Wie wenn der Empfang gestört ist, hört man immer ganz kurz was und dann wird es wieder abgehackt. "Bi - hill - .. ", mehr versteh ich nicht. Und dass ich Bill heiße, weiß ich. Dann gehts aber weiter und irgendwie kann ich aus den Bruchstücken etwas verstehen. "Bill, du musst mich holen. Die halten mich hier fest. Ich komm nicht raus! Ich muss leise sein, sonst bin ich gleich das Handy los und die hauen mich weg. Alle denken, ich wär tot! Die hätten mich umgebracht. Aus der Klinik entführt und umgebracht! Bill, hol mich hier ra-" - Leitung tot.

Donnerstag, 20. Mai 2010

Kapitel 6

Nachdem ich den Brief bis zu dem Absatz gelesen hatte, ist mein Blick nach unten gewandert. Warum genau, weiß ich nicht. Vielleicht einfach um zu prüfen, wie lang der Text noch ist. Wie viel ich noch von ihm lesen darf und gleichzeitig muss. Denn es tut gut seine Handschrift zu sehen und zu merken, dass ich wohl doch noch eine Rolle in seinem Leben spiele, wenn er diese Zeilen an mich richtet. Dennoch schmerzt es auch, da sowohl der Inhalt keine schöne Abendlektüre darstellt, mit der man sich gemütlich in einen Sessel mit Decke kuscheln möchte, aber vor allem auch die bloße Tatsache, dass er schreibt – dass ich nach so langer Zeit des Alleinseins gerade von ihm eine Nachricht bekomme – tut weh, denn es zeigt wie viel passiert ist und das nichts mehr so ist wie es war, wahrscheinlich nie mehr so werden wird und wie weit wir uns mittlerweile voneinander entfernt haben.
Wie auch immer. Mein Blick war auf jeden Fall über den restlichen Teil des Briefes geglitten und als wären sie in Signalfarben markiert, erfassten meine Augen sofort die wichtigsten Schlüsselwörter des letzten Teils und mein Gehirn setzte sie in Sekundenbruchteilen um, sodass mich sofort – ohne wirklich zu lesen – die Erkenntnis traf, dass dieser letzte Teil des Briefes der schrecklichste war.
Nachdem mich diese Erkenntnis durchströmt hat, lasse ich den Brief sinken, atme tief ein und aus und starre einfach nur ins Grüne. Gegenüber der Bank findet man die verschiedensten Grüntöne, wenn man die Wiese, die von Bäumen mit üppigen Baumkronen umgeben ist, und auf der verschiedenste kleine Blumen wachsen. Die verschiedenen Farbtöne verschwimmen vor meinen Augen, da ich einfach nur ins Nichts starre. Unfähig etwas mit den Augen zu fixieren. Genauso unfähig aus dem Strom meiner Gedanken einen einzelnen zu greifen und diesen festzuhalten. Alles scheint einfach an mir vorbeizuziehen und ich sitze teilnahmslos da. Handlungsunfähig.
Nach ein paar Minuten reiße ich mich mit einer kleinen inneren Kraftanstrengung aus diesem tranceähnlichem Zustand. Langsam schließe ich die Augen und versuche meine Konzentrationsfähigkeit in mir wiederzufinden. Noch einmal atme ich tief ein und aus, öffne dann die Augen und hebe den Brief, den ich auf meinen Schoß hatte sinken lassen, mit zitternden Händen wieder an.
Konzentriert less ich diesen letzten Absatz. Dann sitze ich da. Äußerlich erstarrt. Innerlich aufgewühlt wie noch nie in meinem Leben.
Egal, was bisher passiert war und egal wie schlimm alles war. Egal, was ich die letzten Monate für Wut und Enttäuschung ich in mir gefühlt habe. Im Moment war es nicht wichtig. Nahezu unbedeutend.
Wie kann es sein, dass es, wenn man glaubt, man habe nahezu alles verloren und das Leben könne nicht schlimmer werden, wieder vom… ja von wem eigentlich?! Schicksal? Zufall? Eine höhere Macht? Von wem auch immer – dass noch mal einer drauf gesetzt wird, sodass es keinerlei Halt, sondern nur noch einen tiefen, gähnenden Abgrund zu geben scheint. Ein schwarzes Loch, das alles, was mir etwas bedeutet und mich mal glücklich gemacht hat, absorbiert. Verschwinden lässt und ich selbst, umgeben von nichts, zurückbleibe.
Ich kann es nicht glauben. Das kann nicht wahr sein. Die Wörter des letzten Abschnitts wirbeln unkoordiniert in meinem Kopf herum. Brachten ihn zum Schwirren.
Will es dir nicht sagen, damit du Mitleid hast. Habe schon vorher versucht dich zu erreichen. Habe Angst, dass die Zeit jetzt nicht mehr reicht. Diagnose gab es letzte Woche. Weiß nicht, ob ich den nächsten Sommer noch erlebe. Möglichkeit der Heilung besteht. Bisher noch keine genauen Aussagen möglich. Ich habe Angst. Ich brauche dich. Weiß, dass ich unglaublich viel falsch gemacht habe. Will kein Mitleid und kein Verzeihen nur deswegen. Du musst es wissen. Immer noch die wichtigste Person in meinem Leben. Habe dir viel angetan. Will dich nicht belasten, brauch dich dennoch. Kein Grund mir zu verzeihen. Muss meine Zeit nutzen, um Verantwortung zu übernehmen.
Alle diese Satzstücke vermischen sich zu einem einzigen Gedankenbrei, in dem ich zu versinken und zu ersticken drohte.
Weiß nicht, ob ich den nächsten Sommer noch erlebe. Möglichkeit der Heilung besteht. Immer noch die wichtigste Person in meinem Leben.
Ja, er hat recht. Diese Tatsache macht die Ereignisse nicht ungeschehen. Ganz und gar nicht. Es ist auch kein Grund ihm zu verzeihen und alles ist wieder gut. Aber für den Moment ist es einfach nicht mehr der zentrale Dreh- und Angelpunkt meines Lebens, auch wenn es das so lange Zeit jetzt so gewesen war.
Er war, bleibt und wird immer mein Bruder sein. Mein Zwillingsbruder. Und DAS durfte einfach nicht passieren. Es scheint so, als würde die Zeit jetzt wirklich davon laufen. Nicht nur Gustav, sondern auch ihm – Tom. Soeben hatte ich beschlossen Gustav zu helfen und dazu auch wieder Kontakt zu Tom zu suchen. Weil es doch einfach unsere Geschichte war. Nun läuft auch Tom selbst die Zeit weg. MIR läuft die Zeit weg.
Eine Trennung wegen so viel Dingen , die sich ereignet haben. Eine Sache. Eine Trennung für immer. Auf diese Art und Weise. Unmöglich.
Doch was soll ich tun? Kann ich überhaupt was tun? Alles scheint einfach unlösbar.
Ich muss zu ihm. Es verändert an Tatsachen nichts, doch es könnte dennoch etwas bewirken. Oder war das nur ein Wunsch? Doch was könnte ich jetzt sonst tun? Ich hatte beschlossen weiterzumachen. Den Stillstand zu besiegen. Ich hatte mir vorgenommen drei Geschichten weiterzuführen. Gustavs, Toms und meine eigene. Meine Geschichte würde in dem Moment enden, in dem das letzte Kapitel der beiden geschrieben waren.
Die Verbindung, die ich mit meinem Bruder mein Leben lang geteilt hatte und das Vertrauen und Verständnis, das wie durch ein unsichtbares Band zwischen uns bestanden hatte, überbrücken nun alle Differenzen. Sie bleiben weiterbestehen. Es löscht sie nicht aus meinem Gedächtnis. Nicht einen einzigen Moment. Doch ich kann sie ausblenden und die Kluft zwischen uns überbrücken. Weil er mein Zwillingsbruder ist. Weil wir immer miteinander verbunden sein würden.
Es darf nicht passieren. Es wird nicht passieren. Nicht solange ich da und in der Lage zu handeln bin.
Ich muss zu ihm. Jetzt.
Ich suche panisch nach dem kleinen Zettel, auf dem die Daten von Tom standen. Mein Herz setzt einen Moment aus. Er ist weg. Einfach nicht mehr da. Was tun?! Wem bitte habe ich etwas getan, damit ich das alles verdiene?!
Doch da ist er. Die Erleichterung durchströmt mich warm und ich bekomme ein schon fast euphorisches Gefühl in mir.Ohne auf noch irgendetwas zu achten renne ich los. Ich kenne die Adresse.
Ich bin Bill. Bill Kaulitz. In diesem Moment bin ich wieder Bill Kaulitz. Weil es gerade das ist, was zählt. Kaulitz.Ich werde jetzt unsere Geschichte schreiben. Irgendwie.

Mittwoch, 19. Mai 2010

Kapitel 5

Was tue ich eigentlich hier? Will ich dem Menschen, den ich seit fast 10 Monaten nicht mehr sah, verzeihen? Bin ich hier hergekommen, weil ich zu schwach bin etwas alleine zu schaffen? Sowieso.. Ich hätte nie gedacht, dass ich eines Tages vollkommen auf mich allein gestellt bin. Ich war nie ohne ihn, ohne Tom. Habe ich es verdient alleine zu sein?

Bevor ich weiter darüber nachdenken kann öffnet sich eine Tür neben der, in die ich so lange Zeit gegangen war, um „nach Hause“ zu gelangen. „Oh, Hallo!“, begrüßt mich eine Frau, die ich nicht kenne. Sie scheint überrascht zu sein. „Hallo“, erwidere ich. Die Frau ist etwa im Alter meiner Mutter, hat braune Locken und sieht sehr hübsch aus. Sie steht vor mir, ich frage mich, was sie denkt. „Bist du nicht Bill Kaulitz?“
Wieder zucke ich bei meinem eigenen Namen zusammen. Dann nicke ich. „Wir wohnen erst seit sechs Monaten hier, deswegen kennen wir uns nicht!“, erklärt sie mir. „Ich.. ich wohne nicht mehr hier..“, sage ich leise und sie schaut erstaunt, sagt aber nichts, hält mir stattdessen ihre Hand hin und sagt: „Ich bin Katrin“, stellt sie sich vor. „Bill“, sage ich während ich ihre Hand nehme. „Du siehst so anders aus. Ich hätte dich beinahe nicht erkannt.“

Während Katrin erzählt schweifen meine Gedanken, wie so oft in letzter Zeit, ab. Es stimmt, ich sehe tatsächlich anders aus. Ich habe ganz „normale“ kurze Haare und bin im Alltag so gut wie ungeschminkt. Meine Augenringe verstecke ich mit Concealer, der Rest interessiert mich meistens nicht. Mein Kleidungsstil ist inzwischen auch alles andere als Extravagant. Wenn ich darüber nachdenke, dass ich vor nicht allzu langer Zeit auf Fashion-Shows gelaufen bin, muss ich schmunzeln. Ich versuche einfach nicht aufzufallen, den Blicken der Menschen zu entgehen. Ja, ich bin Bill Kaulitz. Aber ich heiße einfach nur Bill. ‚Kaulitz’ bedeutet mir überhaupt nichts mehr. Zu tief sind die Wunden, die die letzte Zeit bei mir hinterlassen hat.

„Bill, hast du mir zugehört?“, höre ich Katrin fragen. Ich schaue sie an und fordere sie auf es zu wiederholen. Mein Blick fällt auf einen Umschlag, den sie mir vors Gesicht hält. „Was ist das?“ Manchmal ärgere ich mich darüber, dass ich so abwesend bin, wenn ich nachdenke, dass ich gar nichts um mich herum wahrnehme.

„Ich habe den Umschlag an mich genommen. Er steckte vor ein paar Tagen bei euch in der Haustür. Steht dein Name drauf.“ Ich nehme den Umschlag an mich und bedanke mich. „Ich muss leider wieder los. Vielleicht sieht man sich ja mal“, sagt sie, bevor sie wieder ins Haus verschwindet. Ich sehe auf den Umschlag und ein kalter Schauer zieht über meinen ganzen Körper, als ich meinen Namen in der Schrift meines Bruders erkenne.

Mein Körper zittert, als ich um das Haus herum gehe und mich auf eine Bank setze, die im Anlageneigenen Park steht. Angst durchfährt mich, während ich darüber nachdenke, dass es er sich, bevor ich mich bei ihm meldete, bei mir gemeldet hatte. Ob irgendwas passiert war? Die Angst war so plötzlich so stark, ich konnte nur mit Mühe wegen des Zitterns meiner Hände, den Umschlag öffnen. Wenn mich das Alles so sehr berührte konnte mir das Alles doch nicht so egal sein, oder? Hatte der Name ‚Kaulitz’ für mich vielleicht doch noch eine Bedeutung? Gab es Hoffnung? Für mich? Für uns? Diese Hoffnung wurde jäh zerstört als ich die Zeilen las.
_____________________________________________
Mein lieber Bill!
Ich schreibe dir seit Wochen und langsam halte ich es nicht mehr aus. Die Briefe kommen zurück mit einem Stempel, ‚VERZOGEN’ steht drauf. Ich schrieb dir immer wieder, in der Hoffnung du würdest die Briefe bekommen. Aber immer wieder kommen sie zurück. Das hier ist der letzte Versuch. Ich bin nach Hamburg gekommen, um mich davon zu überzeugen, ob du weg bist. Und du bist es. Ich suche dich, habe keine Ahnung, wo ich noch suchen soll, weiß nicht, wo du bist. Es zerreißt mich!
Ich habe ein neues Handy, ich wohne in der Innenstadt, bin aber grad in einer Klinik. Ich will ja was ändern, aber es ist so schwer. Ich muss was ändern, weil es sonst keinen Ausweg gibt. Ich habe es übertrieben. Ich weiß das. Und die Ärzte wissen es jetzt auch. Ich versuche es ja.
Ich möchte gar nicht so viel hier schreiben, denn ich weiß nicht, ob du den Brief jemals in die Hände bekommst oder jemand Anderes diesen liest. Ich hänge dir einen Zettel mit Kontaktdaten an. Ich hoffe, dass du dich eines Tages meldest. Ich weiß, dass du sauer bist und mich nicht sehen willst. Deine Enttäuschung verstehe ich. Und auch, dass du sauer bist.
Aber ich hoffe, dass du mir noch einmal verzeihen kannst.
_____________________________________________
Ich atme kurz ein, bevor ich weiterlese und das Schrecklichste überhaupt erst zu lesen bekomme.
Das, was ich da lese, wird mir innerhalb kürzester Zeit den Boden unter den Füßen wegreißen...

Dienstag, 18. Mai 2010

Kapitel 4

Manchmal frage ich mich, wo eine Geschichte beginnt und wo sie aufhört. Ab welchem Punkt darf ich hier nicht mehr von 'unserer' Geschichte erzählen, sondern nur noch von meiner? Ich lebe mein Leben mittlerweile mehr mit den Vögeln in meinem Garten zusammen, als mit meinem Bruder. Es ist ein ungewöhnliches Gefühl, ich möchte nicht darüber nachdenken, dass ich alleine bin. Alleine. Das klingt so kalt, so einsam, aber was bin ich denn? Ich laufe durch die Straßen, irgendwohin, wo mich niemand beobachtet, dort wo ich alleine bin. Ich habe nicht das Gefühl, als wäre ich jetzt, wo so viele Menschen an mir vorbei gehen, nicht alleine. Ich weiß gar nicht, ob sie mich überhaupt wahrnehmen. Es sind die üblichen Menschen, die zielgerichtet ihrem Alltag nachgehen, blind ihrer Umwelt gegenüber. Wieso sollten sie also aufsehen, wenn ihnen dieser Mensch entgegenläuft, scheinbar dabei, sein tägliches Sportpensum zu bewältigen. Ja, ich kann es verstehen, diese Menschen lieben ihren Alltag. Alles muss voran gehen. Mittags um 12 müssen die Einkäufe im Kühlschrank sein, nachdem vormittags schon die Wohnung gesaugt und gewischt wurde, sodass alles fertig ist, wenn um halb zwei die Kinder nach Hause kommen. Mittagessen wird also bis dahin gekocht. Nachmittags pendelt es dann zwischen Kinderbeschäftigung und bei den Hausaufgaben helfen, damit abends alles fertig ist und die Familie noch gemeinsam fernsehen oder Mensch ärgere dich nicht spielen kann. Die Tage sind durchstrukturiert, da reicht schon ein kleiner Stau auf dem Weg nach Hause, um die Menschen aus der Reihe zu bringen.

Ich brauche diesen Alltag nicht. Ich komme auch so klar, ich hatte doch nie einen Alltag. Was habe ich mich früher für Schule interessiert? Ja, meine Mutter hatte des Öfteren die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen, als ihre Söhne, als wir, mal wieder mit dem ganz normalen Schulkram und der ganz normalen Miene nach Hause kommen und erzählen, wie unser ganz normaler Schultag war, sie aber vorher schon von unserem Klassenlehrer einen Anruf bekommen hatte, warum wir denn ohne Abmeldung nicht zur Schule gekommen waren. Naja, und danach war dann von Alltag auch nicht mehr zu sprechen. Jeden Tag ein neues Hotel, eine neue Stadt, oft sogar ein neues Land. Ich brauche keinen Alltag. Das würde mich bloß fertig machen. Langweilen.

Aber ich habe einen Entschluss gefasst. Jetzt, wo mir der frische Wind so durchs Gesicht fegt, da weiß ich, ich kann nicht mehr stehen bleiben. Ich kann nicht nach Hause gehen und irgendwas tun. Ich muss was wirkliches tun, etwas, das ich mir vornehme. Ich kann nicht zu Hause sitzen und warten, bis etwas passiert, mir wird nicht mehr vorgelegt werden, wann ich wo zu sein habe, wie ich wann gucken muss und was ich wann essen sollte, ich muss es jetzt selbst in die Hand nehmen, ich kann nicht warten, bis mein unglaublich guter Freund, ein Mensch, der 5 Jahre lang so gut wie immer bei mir war, stirbt, bis seine Eltern ihn.. umbringen. Nein, das tun sie nicht, ich weiß das doch, aber... ich kann das einfach nicht, ich muss doch irgendwas tun..

Die Ampel wird grün und die Menschenmasse setzt sich in Bewegung, gesteuert von ihrem inneren Trieb nach Alltag. Ich reihe mich ein, nicht in den Alltag, in die Masse. Aber auf der Mitte der Straße, einer kleinen Verkehrsinsel mit gelben Blumen an den Rändern, drehe ich um und gehe zurück. Die Ampel ist schon wieder rot, aber es hupt niemand in der Reihe der Autos, die darauf wartet, sich endlich in Bewegung setzen zu können. Also beeile ich mich, ans Ende des Fußgängerübergangs zu kommen und dann schnell in die Richtung zu laufen, aus der ich gerade gekommen war. Ich muss jetzt dahin, es hat ja eh keinen Sinn. Ich weiß den Weg ganz genau, wie oft bin ich ihn gelaufen in letzter Zeit. Wir waren gerade erst eingezogen, zu oft mussten wir die Adresse wechseln, weil irgendwelche Menschen sie wieder einmal herausgefunden und uns aufgelauert hatten, trotzdem weiß ich ganz genau, wo ich lang muss. Am Anfang hab ich mich immer an der Hauswand orientiert mit dem großen Plakat, das für irgendein Hotel wirbt. Aber das Plakat stoch direkt ins Auge, durch seine unglaubliche Farblosigkeit im Gegensatz zu der roten Hauswand, an der sie hing. Seltsam, oder? Auf jeden Fall muss man hinter diesem Haus mit dem Plakat rechts reinbiegen und dann die zweite links. Es ist nur ein schmaler Weg und wahrscheinlich würde niemand darauf kommen, dass wir dort wohnten, aber genau das ist der Punkt. Von außen sieht es aus wie eine Barracke, wie etwas, wo niemals so ein.. Weltstar.. leben würde. Aber innen ist es total schön! Wir haben immer eine Wand in jedem Zimmer bunt gestrichen! Und ich habe richtig tolle Bilder und Möbel ausgesucht. David hatte mir damals mal jemanden vorgestellt, nach irgendeiner Feier und auf jeden Fall hat der mir dann mal die Möbel gezeigt, die einer seiner Geschäftspartner macht und die haben mir so sehr gefallen - vor Allem sind es Einzelstücke !! -, da hab ich sie einfach mitgenommen. Naja, also so war das zumindest. Und ich hab natürlich keine Ahnung, wie es jetzt ist, wer weiß, vielleicht wohnen ganz andere Menschen dort, ich hatte den Vertrag ja nie, Tom wird die Wohnung wohl verkauft haben und ich wüsste auch nicht, wieso nicht und bin mir auch total sicher, aber ich will es versuchen. Ich weiß, was er getan hat und er ist der größte Idiot, ein verdammter Idiot, aber ich weiß genau so, dass ich es nicht bin. Und ja, ich bin unglaublich sauer und ich werde es immer sein, ich werde ihm das niemals verzeihen. Aber ich weiß, dass es jetzt noch zu retten ist. JETZT noch. Wer weiß, was in ein paar Tagen ist? Aber ich alleine kann es nicht retten. Kann ihn nicht retten. So schwer es mir auch fällt, es mir selbst einzureden, aber ich brauche ihn an dieser Stelle. Anders geht es einfach nicht.

Nach mehr als 20 Minuten laufen, bin ich an der Ecke angekommen. Das wurde auch Zeit, ich hatte nie die besondere Kondition und würde es mir gerade nicht so wichtig sein, wäre ich auch nicht nur die Hälfte der Strecke gelaufen. Das Plakat wurde jetzt durch eins für irgendeinen Online-Blumenhändler ersetzt, in grellen, bunten Farben und irgendwie finde ich das ganz schön unpassend, immerhin ist doch die Wand schon rot. Aber was solls, ich werds mir merken, für das nächste Mal, wenn ich hier bin, falls ich noch ein mal hier sein werde.

Die kleine Straße sieht genau so aus wie immer. Die Türen, die in die kleinen Wohnungen führen, in denen meist irgendwelche von der Welt abgeschnittenen Menschen leben, sind mit den selben Vorhängen behangen wie immer. Eigentlich seltsam, da wohnt man praktisch mitten in der Stadt, aber nur dadurch, dass man nicht mehr auf der großen Hauptstraße wohnt, ist es schon ein ganz anderes Leben. Sobald man auf den Weg hinter der Ecke kommt, scheint alles stiller, gedämpfter, als hätte jemand plötzlich einen Wattebausch zwischen das Leben in der Stadt und das Leben hier gestopft. Eine Katze kratzt sich an der unruhigen Struktur der Steinwand den Rücken und sieht mich nicht sehr erfreut an, als sie mich ihr entgegenkommen sieht. Ich hab jetzt keinen Nerv, sie umzustimmen, also gehe ich einfach an ihr vorbei. Soll sie sich schön weiter die Flöhe aus dem Fell sortieren und mich gehen lassen.

Die zweite Straße von links. Beim Abbiegen wird es dann irgendwie noch düsterer und noch stiller. Aber so ist es und genau so sollte es auch sein. Die Tür sieht man sofort, auch wenn sie nicht gerade zum Eintreten einlädt. Unsicher darüber, was das überhaupt alles soll und wie es weitergehen soll, klopfe ich an und warte auf irgendein Anzeichen, dass jemand da ist.

Ich klopfe noch mal. Und noch mal. Und dann wühle ich in meiner Tasche, bis ich endlich einen Prospekt finde, den ich heute morgen noch aus dem Briefkasten gefischt hatte, bevor ich losgegangen bin. Auf die Rückseite schreibe ich 3 Sätze, 10 Wörter.

"Er kann nicht mehr. Melde dich. Ich brauche dich. Bill"

Montag, 17. Mai 2010

Kapitel 3

Hat er jetzt angeklopft oder die Tür einfach so geöffnet? Wahrscheinlich darf man Türen öffnen ohne vorher zu Klopfen, sobald man so einen weißen Kittel trägt. Vielleicht habe ich es auch einfach nicht gehört. Was interessiert mich in diesem Moment auch so ein unwichtiges Geräusch? Ich habe nur kurz aufgeschaut und meinen Blick dann wieder sinken lassen. Auf die Hand, die immer noch so unbeweglich in meiner liegt, als würde sie sich nie mehr bewegen. Die Hand ist zumindest nicht ungewöhnlich kalt, sondern warm und ich spüre den Pulsschlag deutlich, was ich gar nicht erwartet hätte. Vermutlich ist er nur schwach, aber es scheint, als hätte ich mich auf das Wahrnehmen jedes noch so kleinsten Geräusches und Zeichens von Gustav eingestellt, um ja keine Regung, auch wenn die Wahrscheinlichkeit ihres Auftretens niederschmetternd gering ist, zu verpassen. Natürlich regt sich nichts und das durchdringende, unpersönliche Piepen der Geräte, die um das Bett aufgestellt sind, scheint in meinen Ohren immer weiter anzusteigen bis es so unangenehm ist, dass ich mich durchringe ein leises trockenes Räuspern von mir zu geben und somit das Stechen in meinem Ohr durch die andere Wahrnehmung zu vertreiben.
„Herr Kaulitz, ist alles in Ordnung mit Ihnen? Ich würde Sie wirklich gern sprechen, es dauert auch nicht lange. Natürlich kann ich auch später wiederkommen, wenn Sie möchten...“
Die tiefe, aber durchaus sympathische Stimme, die einen warmen und beruhigenden Klang hat, dringt wieder zu mir durch und dieses Mal blicke ich dem Mann in die Augen.
Diese Worte sind sicherlich während seiner Zeit als angehender Arzt gut geübt worden, damit sie eindringlich und dennoch nicht aufdringlich, sondern viel mehr verständnisvoll klingen. Nichtsdestotrotz ist ihm ein Fehler unterlaufen. Zwei sogar. Selbst wenn man mich nur von hinten sieht, erübrigt sich die Frage, ob wohl alles in Ordnung mit mir wäre von allein und wenn man dazu noch feststellt, dass ich an dem Krankenbett eines meiner besten Freunde sitze, welcher seit Monaten im Koma liegt, könnte man sogar meinen, diese Frage sei unangebracht. Wie dem auch sei. Das ist unwichtig, das habe ich schon so oft gehört in dieser Zeit. In diesem, meinem zweiten, Lebensabschnitt, in dem alles anders ist und ich mich immer wie ein Fremdkörper, der nicht recht in seine Umgebung passen möchte, fühle.
Was für einen bloßen Betrachter vermutlich viel verwunderlicher ist, ist die Tatsache, dass ich bei dem Klang meines Nachnamens innerlich zusammengezuckt bin. Äußerlich hätte man es nur in meinem Blick erkennen können, ansonsten habe ich mich nicht geregt. Dennoch durchfährt mich ein kühles Stechen in der Brust und mein Nacken wird heiß, wenn ich meinen Nachnamen höre. Kaulitz. Aber ich heiße einfach nur Bill. Das wisst ihr mittlerweile. Loswerden kann ich diesen Namen und all die Erinnerung, die dabei an meinen älteren Bruder, der immer ein Teil von mir und gewisser Weise ein Spiegel meiner selbst war, in dem ich mich erkennen und verstehen konnte, nicht. Sowohl meine guten als auch meine schlechten Eigenschaften spiegelte er wider. Doch irgendwann verschwand mein Spiegelbild immer weiter aus ihm und es blieb nicht viel von der Vertrautheit, in der ich mich mein Leben lang sicher gefühlt hatte, auch wenn ich jung und weit weg von Zuhause war, übrig.
Doch natürlich muss ich auf diesen Namen reagieren, also schaue ich auf in das freundliche Gesicht des jungen Arztes. Ich kenne ihn. Schon bei meinem letzten Besuch, der unentschuldbar lange zurückliegt, habe ich ihn getroffen.Ich räuspere mich noch einmal. Dieses Mal lauter, um sicherzugehen, dass meine Stimmbänder das tun, was sie sollen.
„Ja… also nein, Sie müssen nicht später mitkommen. Ich… ich komme schon“, antworte ich mit einer Stimme, die trotz Bemühung monoton und irgendwie fremd klingt.
Ich stehe also auf und gehe auf den Mann im weißen Kittel zu, der, als er merkt, dass ich ihm folgen werde, raus auf den Flur tritt und sich suchend umschaut. Er scheint zu überlegen, ob er mit mir in sein Büro gehen soll, welches schräg gegenüber ist. Natürlich kann er das aber nicht machen, denn wer bin ich denn schon? Ich bin Bill. Bill Kaulitz, der Bruder von Tom Kaulitz. Wahrscheinlich interessiert ihn das nur sekundär. Ich bin einfach ein Freund eines Patienten und in keiner Weise ein Angehöriger. Sicherlich weiß er, dass die Eltern dieses Patienten nicht mit mir sprechen wollen, was die Situation nicht verbessert.
Wir bleiben also in einer Ecke auf dem Flur neben einem Wagen mit Bettlaken und Reinigungsmitteln, die einen eindringlichen Geruch verströmen, stehen.
„Wie geht es Ihnen?“, fragt er und klingt dabei aufrichtig.
„Was wollen Sie mir sagen?“, ist meine ausweichende Antwort, bei der ich mich aber um ein kleines Lächeln zu bemühen versuche, damit es nicht so abweisend klingt, wie ich es meine. Weil ich einfach nicht anders kann, als abweisend zu sein. Ich merke jedoch selbst, dass mein versuchtes Lächeln nur ein gequältes Verziehen des Mundes ist und lasse es wieder sein. Es stimmt, ich habe wirklich seit Monaten nicht mehr gelacht.
„Sie wissen wie Gustavs derzeitiger Zustand ist?“, fragt er ohne sich anmerken zu lassen, dass ich ihm eine Antwort auf eine scheinbar so alltägliche Frage verwehrt habe.
„Ja, ich telefoniere regelmäßig mit seiner Schwester. Er ist… er ist… zumindest stabil.“ Meine Worte werden zum Ende hin leiser. Was soll man auch sagen? Er ist gefangen in seinem Körper, nicht in der Lage sich zu regen und niemand kann sagen, ob und was er wahrnehmen kann. Ob er träumt oder sein Geist völlig erstarrt ist.
„Ich weiß, dass die Schäfers nicht mit Ihnen sprechen, abgesehen von Franziska. Ich denke aber, dass Sie wissen sollten, dass wir einen Zeitpunkt überschritten haben, ab welchem ich keinerlei Hoffnung mehr aussprechen kann, so gerne ich es auch tun würde. Die Wahrscheinlichkeit, dass Gustav noch einmal aufwachen wird, ist geringer als 6 Richtige im Lotto zu haben.“ Schweigen. Ich kann darauf nichts sagen. Meine Augen sind trocken und beginnen nun zu jucken. Ich beiße mir auf die Lippe, um zu verhindern, dass sich eine Träne den Weg über meine Wange bahnen kann.
„Fuck“ ist das Einzige, was ich nach einer halben Minute entgegnen kann. Natürlich weiß ich wie es um Gustav steht. Wozu telefoniere ich denn mit Franziska? Aber wenn dieser Kerl mir das sagt, obwohl er mir eigentlich überhaupt kein Sterbenswörtchen verraten darf, heißt das, dass Gustavs Eltern überlegen das Ganze zu beenden. Sie wollen ihn aufgeben. Vermutlich wollen sie, dass er endlich seinen Frieden finden kann oder wie man so eine Scheiße sonst noch formuliert. Nachvollziehbar?! Vielleicht. Verständlich?! Auf keinen Fall. Nicht für mich.
Nicht für mich, bei dem alles daran hängt, ob es vielleicht noch eine zweite große Wendung in meinem Leben geben wird, indem Gustav wieder aufwacht.
Ich lebe momentan nur noch für diese eine Chance, für diese verschwindend geringe Wahrscheinlichkeit, dass Gustav wieder zu uns stößt. Dass es ihm wieder gut gehen wird und ich ihm sagen kann, dass er sein Haus behalten kann. Dass ich es retten konnte. Dass ich wenigstens irgendetwas retten konnte, wenn ich auch schon bei viel zu viel anderen Dingen nicht im Stande war sie zu retten oder noch zum Guten umzukehren.
Gibt es eine andere Möglichkeit, dass es wieder gut werden könnte, als die, dass Gustav das Koma besiegt? Kann ich unter anderen Umständen meinen Bruder zurückgewinnen, als vielleicht und auch nur vielleicht dadurch?!
Bin ich egoistisch, wenn ich so denke? Das habe ich mich schon oft gefragt. Was meint ihr – bin ich es?

„Haben sie sich schon entschieden?“, frage ich dann doch noch nach einer Ewigkeit, in der ich es geschafft habe, dass die Dumpfheit, die mich die meiste Zeit umgibt, wieder umhüllt und somit jegliche Möglichkeit eines Tränenbaches erstickt.
„Nein, sie wollen drüber nachdenken. Natürlich habe ich da nicht zu geraten, aber es ist meine Pflicht die Eltern, die die Vollmacht haben, über die Situation in Kenntnis zu setzen…“, fährt er fort, doch ich unterbreche ihn. 
„Ja, ich weiß. Es ist Ihre Pflicht. Ich hatte auch mal viel Pflichten. Doch ich musste sie nicht allein tragen. Ich hätte sie auch gar nicht allein tragen können. Dann ist mein größter Stützpfeiler eingebrochen und auch die Pflichten, die ich doch allein getragen habe, konnte ich nicht einhalten. Es ist gut, dass Sie Ihrer Pflicht nachkommen. Danke, für ihre Offenheit.“ Mit diesem mehr lauten Gedankengang als wirklichem Antwortsatz drehe ich mich um und gehe den Flur runter.

„Herr Kaulitz, es tut mir Leid. Aber ich vermute, es bleibt Ihnen nicht mehr viel Zeit sich zu verabschieden“, ruft er mir noch hinterher und ich bin mir sicher, dass es ihm wirklich nahegeht.
Ich bin nicht im Stande ein Zeichen der Wahrnehmung seiner Worte von mir zu geben und eile mit zwei großen Schritten ins Zimmer von ihm. Meinem Drummer. Einem meiner besten Freunde, mit dem ich so unglaublich viel erlebt habe.
Wie angewurzelt bleibe ich stehen und schaffe es nicht, vollständig in den Raum zu treten.
„Ich muss jetzt gehen. Aber wir sehen uns wieder. Ich verspreche es dir. Ich verspreche es dir, dass ich für dich kämpfe so wie für dein Haus. Weil man den Glauben in etwas nicht verlieren darf. Nie. Ich… ich komme bald wieder.“
Jetzt passiert es doch und salzige Tränen bahnen sich einen Weg aus meinen brennenden Augen. Verschleiern mir die Sicht auf ihn. Fließen langsam über meine Wangen nach unten. Als ich das Geräusch des ersten auf dem Boden auftreffenden Tropfens höre, drehe ich mich um und verlasse das Zimmer. Auf dem Weg den Flur runter in Richtung Ausgang werde ich immer schneller.

„Herr Kaulitz, es tut mir Leid. Aber ich vermute, es bleibt Ihnen nicht mehr viel Zeit sich zu verabschieden“ Herr Kaulitz. Wer ist das? Bin ich das oder ist er das? Früher waren wir es. Wir. Jetzt kann ich es nicht mehr sagen. Ging das wirklich an mich oder vielleicht an ihn? Sollte nicht derjenige, der das alles verursacht hat , zurückkehren und sich wenigstens verabschieden?
Ich weiß nicht einmal, ob es ihn interessiert oder ob er noch im Stande ist, es zu realisieren. Vielleicht nimmt er von dieser, der wirklichen Welt schon gar nichts mehr wahr.
Wenn ich ehrlich zu mir selbst wäre, würde ich mir eingestehen, dass ich nicht einmal weiß, ob er überhaupt noch lebt oder ob er an dem ganzen Scheiß schon zu Grunde gegangen ist.
Was ich weiß, ist, dass es weitergehen muss.
Ich darf jetzt nicht im Stillstand stillstehen. Ich muss mich in ihm fortbewegen, um ihn zu besiegen. Wie genau? Ich weiß es nicht.
Das Haus. Es ist noch nicht wieder repariert. Da darf ich nicht aufgeben.
Meine Geschichte ist noch nicht zu Ende geschrieben. Ich muss sie fortführen. Auch seine Geschichte ist noch nicht zu Ende und ich muss dafür sorgen, dass sie es nicht bald sein wird. Weil er es gerade nicht kann.
Und was ist mit seiner Geschichte? Ich habe sie aus den Augen verloren. Obwohl wir damals ein und dieselbe Geschichte hatten. Unmöglich voneinander zu trennen. Ein nicht lösbares geflochtenes Band. Aber nun? Zerrissen. Ich werde die Bänder wieder verknüpfen. Ich muss es zumindest versuchen.
Ich werde sie verknüpfen und dann werde ich auch seine Geschichte weiterschreiben. Wir werden seine Geschichte weiterschreiben. Nur für eine Weile. Weil er es nicht kann. Gerade nicht kann.

Geblendet von dem gleißenden Sonnenlicht, das die Straßen durchflutet und das komplette Leben in seinen schönsten und hässlichsten Farben leuchten lässt, trete ich nach draußen.
Natürlich kommt jetzt kein Bus. Aber das ist egal. Ich beginne zu laufen. Ja, richtig zu laufen. Ich weiß nicht, wann ich das das letzte Mal getan habe.

Aber ich weiß, wer ich bin.
Ich bin Bill Kaulitz. Ich bin der Bruder von Tom Kaulitz. Und das ist unsere Geschichte.

Kapitel 2 - JEDER Kommentar ist gewünscht! (:

Als es schon dunkel und kalt ist, ich die Hand schon nicht mehr vor Augen sehen kann, gehe ich doch in das Haus, wo ich so ungern drin bin. Ich hasse diese Jahreszeit! Obwohl es bereits Mitte April ist, das Wetter ist mehr als bescheiden.
Ins Haus tropft es rein, ich friere mir den Hintern ab. Man mag es kaum glauben, dass in diesem Haus überhaupt noch Jemand lebt. Die eingerissenen Wände auf der rechten Seite erinnern mich an den Tag, an dem ich zu spät kam. Die Baumaschinen konnte ich aufhalten ihre Arbeit zuende zu bringen, aber trotzdem hatte dieser Tag Spuren hinterlassen. Allein die Erinnerung daran treibt mir die Tränen in die Augen. Wer hätte gedacht, dass ich, Bill Kaulitz, eines Tages beim Anwalt meines Freundes um dessen Haus kämpfen müsste, weil dieser es nicht konnte? Ich, Bill Kaulitz. Wer heißt schon Kaulitz? Immerhin hatte ich es geschafft und das Haus war noch da. Es zu reparieren wird Monate dauern. Und ohne Kohle kann ich wohl eh Nichts ausrichten. Mein letztes Geld ging an die Hypothek des Hauses. Ich konnte nicht zulassen, dass es abgerissen wird.
Mir einen Überblick über das Ausmaß der Zerstörung verschaffend, stehe ich still in dem Flur des Hauses, nicht wissend, was ich jetzt tun sollte. es sieht aus wie Tag und Nacht hier drin. Auf der rechten Seite Zerstörung, auf der linken Seite die Habseligkeiten eines 22-Jähringen. Als die Männer an den Baumaschinen ihre Arbeit niederlegten und weg waren, versuchte ich verzweifelt zu retten, was zu retten war. Ich versuche bis heute das Haus so gut zu halten, wie ich kann. Es ist sauber und ich muss sagen, dass ich rechtzeitig gekommen war. So schlimm ist es Alles nicht. Die Ansätze der Vorderfront sind eingerissen, aber nicht vollkommen zerstört, ich sitze also immer noch in vier Wänden und nicht im Garten. Ich weiß, man kann es sich schlecht vorstellen, es ist auch nicht so wichtig für das Verständnis meiner Geschichte.
Fakt ist: Ich heiße Bill. Bill Kaulitz. Aber ich heiße einfach nur Bill. Wer heißt schon Kaulitz? Das Leben, dass ich hatte, ist Vergangenheit. Der Junge, der ich mal war, ist Vergangenheit. Ich lebe allein im Haus meines Freundes, der . . .
Okay, es hat ja eh keinen Sinn es euch vorzuenthalten. Vielleicht sollte ich reinen Tisch machen? Nichts ist wie früher und Nichts wird wie früher sein, denn Alles hat sich verändert. Ich weiß weder wo mein Bruder Tom ist, noch ob Gustav je in sein Haus zurückkehren wird. Kann. Die Zukunft wird es zeigen. Alles was ich weiß ist, dass ich hier bleiben muss. Gustav zuliebe. Ich passe auf das Haus auf, solange er es nicht kann.

Ich lasse mich auf meinem Bett sinken, meine Möbel habe ich mittlerweile hier anliefern lassen. Die Wohnung, die ich mit Tom in Hamburg hatte, habe ich vor einigen Wochen aufgegeben, nachdem mein lieber Bruder in der Nacht nach dem endgültigen Aus unserer Karriere, seine Sachen nahm und verschwand. Die ersten Wochen war mir das ganz Recht, ich wollte ihn nicht mehr sehen. Konnte nicht etragen zu sehen, wie er sich zunehmend selbst zerstörte. Nicht dem Menschen in die Augen sehen, den ich so sehr liebte und gleichzeitig so dafür hasste, was er die letzten Monate mir und unserer Band angetan hatte. Mit der Band verloren nicht nur wir unseren Job, sondern auch die gesamte Crew verlor im gewissen Sinne ihre Existenz. Die Verantwortung, die wir diesen Menschen gegenüber trugen, verlor mit einem Mal ihre Bedeutung. Für Tom. Für uns. es gab keine Band mehr ohne Gustav, der seit diesem Abend im Krankenhaus und ohne Tom, der seit er realisiert hatte, was passiert war, verschwunden war. Ich habe keine Ahnung, ob sich irgendwas an Toms Lebenswandel geändert hat, oder ob Alles genauso ist. Ich weiß nicht, ob er sich wieder im Griff hat.
Alles was ich weiß ist, dass ich das so langsam nicht mehr etragen kann. . .
Ich rolle mich auf meinem Bett zusammen und versuche zu schlafen, was mir auch nach einigen Versuchen und Umdrehen gelingt.

Als ich am nächsten Morgen erwache ist mir klar, dass ich mich endlich trauen muss Gustav zu besuchen. Als ich das letzte Mal bei ihm im Krankenhaus war, es ist jetzt drei Monate her, bin ich zusammengebrochen. Seitdem habe ich mich nicht mehr getraut. Der Entschluss steht fest, ich muss zu Gustav ins Krankenhaus. Ich telefoniere regelmäßig mit seiner Schwester Franziska, die mich über seinen Gesundheitszustand informiert. Mit Gustavs Eltern habe ich keinen Kontakt mehr. Sie wollen ihn nicht. Ich glaube hier wäre mal wieder mein Name angebracht: Ich heiße Bill Kaulitz. Ich bin der Bruder von Tom Kaulitz. Dem Jungen, der ihrem Sohn das angetan hat. Der Junge, der sich nicht im Griff hatte und der diesen schrecklichen Unfall ausgelöst hatte. Ich bin Bill Kaulitz. Wie dem auch sei.
Ich mache mich also fertig, räume ein wenig auf, frühstücke. Ich beschließe während ich meinen Kaffee trinke, dass ich dringend hier aufräumen muss. So richtig. Gustavs Kram liegt überall rum und ich habe keine Ahnung, was überhaupt in den Kisten ist, die hier verteilt stehen. Gustav war bereit auszuziehen. Er hatte so viel getan, dass er hier wohnen bleiben konnte, Nichts half. Jetzt bleibt er. Er weiß es noch nicht. Wie auch?

Nachdem ich mich angezogen habe mache ich mich auf den zum Bus, der mich zum Krankenhaus bringen soll. Bis Eppendorf war es von mir ein ganzes Stück, aber die Buslinie 20 bringt mich direkt vor die Türen des Haupteingangs der Uniklinik. Wie in Trance steige ich aus, mache mich auf den Weg und gehe auf die Station auf die ich muss. Es fühlt sich schrecklich an wieder hier zu sein, doch ich weiß, dass es richtig ist. Ich melde mich im Schwesternzimmer an und kriege gesagt, dass ich direkt zu Gustav gehen kann. Ich bin aufgeregt, fühle mich als müsste ich mich übergeben, aber ich bleibe stark.
Von Franziska weiß ich, dass sein Zustand stabil ist, aber er ist seit diesem Tag nicht aufgewacht. Man weiß nicht, ob er überhaupt jemals aufwachen wird. Diese Ungewissheit ist schrecklich. Sie frisst einen von innen auf. Ich hoffe so sehr, dass bald Alles gut wird. Diese Hoffnung trage ich seit bald 10 Monaten mit mir rum. Am 14. Juli 2010 ist es geschehen. Jetzt ist Mitte April. Ich fühle mich elend. Ich glaub ich muss kotzen.Während ich die Tür öffne geht es mir gleich besser. Ich weiß, dass es richtig ist hier zu sein. Ich weiß es. Ich fühle es.
Als ich Gustav in seinem Bett sehe mit den Schläuchen im Hals wird mir schlecht. Mir steigen die Tränen in die Augen. Ein Stuhl steht neben dem Bett, ich nehme Platz. Wie aus Reflex nehme ich Gustavs Hand. "Hey, wie geht es dir?" . . .
"Ich weiß nicht, ob du mich hören kannst.. aber..", meine Stimme versagt. ".. ich hoffe einfach, dass du mich hörst. Ich will dir was sagen.. Ich habe dein Haus gerettet, ich wohne bei dir. Ich bin eingezogen.. Ich weiß nicht, Tom ist irgendwo, ich bin alleine.. " Schon laufen mir die Tränen über die Wangen. "Ich weiß, ich war nur zwei Mal hier.. aber ich konnte nicht kommen.. ich hoffe du bist nicht sauer. Georg ist mit Melanie nach Berlin gezogen. Ich weiß nicht, aber ich glaube er brauchte den Abstand einfach..".
Ich atme tief ein. Würde mich in diesem Moment Jemand fragen, wie ich mich fühle, ich könnte keine Antwort geben. "Ich habe deine Sachen in Ruhe gelassen.. also nicht, dass du denkst ich gucke mir da irgendwas an.." Ich atme ein. Schaue ihn an. Flüstere: "Ich glaube ich habe schon seit Monaten nicht mehr gelacht."

In diesem Moment geht die Tür auf. Ein Mann im weißen Kittel steht in der Tür. "Herr Kaulitz, kann ich sie einen Moment sprechen, bitte?"

Sonntag, 16. Mai 2010

Kapitel 1

Ein Haus. Ein Haus, umgeben von Grün, allen Farben, die unter die Definition von "grün" passen könnten. Ein Haus mit einer schmalen Veranda aus altem, morschen Holz. An einigen Stellen fehlen Dielen, an anderen wurden die alten durch neue ersetzt. Ein Haus mit einem Schaukelstuhl auf der Vorderseite der Veranda, genau so, dass man das Dunkel der Nacht mit den seltenen Lebenszeichen der Natur am Besten aufnehmen kann. Genau so, dass man ohne den Kopf drehen zu müssen die Bäume, die große Wiese vor dem Haus und den kleinen grünen Tümpel mit seinen vielen grünen Pflanzen und grünen Tieren auf einen Blick hat. Ein Haus, das im totalen Gegensatz zu seiner heilen Umgebung steht. Ein kaputtes Haus, so wie man es sich in Kindertagen als Ziel einer Nachtwanderung gemacht hat, so wie eines von denen, die ich damals nie betreten hätte. Ein Haus der Zerstörung, der dunklen Erinnerung. Mein Haus. Das Haus, das ich niemals haben wollte.
__________________________________

Mein Name ist Bill. Bill Kaulitz. Aber ich heiße einfach nur Bill. Wer heißt schon Kaulitz? Ich bin 21 Jahre alt, aber mit dem, was ich schon erlebt habe, könnte ich die Biografien zehn 80jähriger füllen. Manchmal frage ich mich, ob es eine bestimmte Menge an Erlebnissen gibt, die nicht überschritten werden darf und sonst in einem Menschen einen Erlebnisüberschuss auslösen, sodass sich ab diesem Zeitpunkt das Leben um 180° wendet und alles anders ist als zuvor. Wenn es so was gibt, dann habe ich diesen Punkt vor zirka einem Jahr erreicht.

Ich möchte die Geschichte erzählen. Die Geschichte des Jungen, der anders ist, der mit 15 in ein anderes Leben einsteigt, der dieses Leben führt und mit 20 Jahren umsteigt, wie von einem Zug in den nächsten, nur dass jeder in eine andere Richtung fährt, wo die Welt ganz anders aussieht, und der nun, mit 21 Jahren, in einem kaputten Haus lebt, das für ihn das einzige ist, was er irgendwie noch als wertvoll betiteln könnte. Ich möchte sie erzählen. Meine Geschichte.

Am ersten September 1989 wurde ich geboren, kurz nach meinem Bruder, dem anderen Kaulitz. Mein Bruder, mein Zwillingsbruder. Der Mensch, mit dem ich schon in den frühesten Jahren anfing zu träumen, von einem unabhängigen Leben, frei von Vorurteilen, in einer Welt, in der man einfach tun und lassen kann, was man will, in der man sich wirklich ausleben kann. Wir haben beide relativ früh unsere Leidenschaft entdeckt - die Musik. Und ja, wir haben geträumt, wer tut das nicht? Große Bühnen, viele Menschen, die die Musik mögen, die man macht. Und ja, irgendwann haben wir es geschafft. Unglaublich, oder? Zu dem Zeitpunkt, als wir in den ersten Zug einstiegen, waren wir gerade mal 15 Jahre alt. Aber das machte rein gar nichts. Wir haben einfach unser Ding durchgezogen. Wir hatten die typischen Pannen, Jahr für Jahr, und irgendwann hatten wir es dann tatsächlich 5 Jahre lang durchgehalten. Zu Beginn unserer Karriere hätte das niemand gedacht, WIR erst recht nicht. Nein, wir hatten wirklich nicht nur Fans, es gab immer genug Menschen, die uns nicht nur Gutes wünschten und so lernten wir äußerst früh, was es heißt, sein Leben zu vermarkten. Wir mussten immer nachdenken, was für Folgen alles mögliche mit sich ziehen könnte, was wir tun wollten. Aber irgendwie haben wir jedes Hindernis gemeistert. Und ich bin mir sicher, es lag daran, dass wir zusammen waren, immer. Ich meine, welcher Jugendliche würde es schaffen, mit 15 Jahren aus seiner Kindheit gerissen zu werden und ab diesem Zeitpunkt Vollzeit, rund um die Uhr, zu arbeiten? Es gibt genug Beispiele gegen diese Art von Aufwachsen.

Nun gut, bis hierher klingt doch alles wunderbar. Wo lag also das Problem? Ich denke, ich sollte Namen ins Spiel bringen. Wie gesagt, ich heiße Bill. Meine Mutter wollte uns beiden einsilbige Namen geben. Das ist leichter zu rufen, vor Allem, wenn wir wieder Mist gebaut hatten... und DAS haben wir oft geschafft! Mein Bruder heißt Tom, nicht Thomas, einfach Tom. Und nebenbei, unsere Band bestand nicht nur aus uns, da gab es auch noch Gustav und Georg, manchmal schien es aber, als wären sie bloß unsere Musiker und wir die eigentlichen Bandmitglieder. Ja, die Presse hatte immer viel Spaß mit den "Kaulitz-Twins". Aber wir waren immer zu viert und wir wollten es auch genauso. Nur zu viert waren wir... wir.

Wie gesagt, bis hier her klingt alles gut, wir hatten immer uns beide, um uns auf die Schienen zu retten, wenn die Züge zu entgleisen schienen. Aber irgendwann kam der Punkt, an dem ich nicht mehr die Kraft hatte, ihn zurück zu halten, er dafür die, uns alle aus der Bahn zu reißen, in den Zug, der irgendwie grau und verblasst schien, nicht mehr hell strahlend, funkelnd wir der, in dem wir 5 Jahre unseres Lebens lang unseren Traum leben konnten. Es war irgendwann im Mai 2010, kurzzeitig konnten wir uns vor dem sofortigen Aus unserer Karriere retten, indem wir einfach ein anderes Gerücht in die Welt setzten, so kann man doch wunderbar von der Wahrheit ablenken.

Tom und ich, wir sind in einem Dorf aufgewachsen, da, wo Teenager schon früh an Drogen kommen. Wenn man dann aber durch die weite Welt reist und einem praktisch alle Möglichkeiten offen stehen, dann kann man es leichter übertreiben. Gerade dann, wenn es scheint, als würde die Öffentlichkeit, in der wir lebten, uns immer weiter einengen und irgendwann zerquetschen. Solche Dinge passieren, überall, aber wenn man im Rampenlicht steht, dann sollte es nicht passieren, zumindest nicht so, dass es publik wurde. Und es wurde publik. Als Tom sich selbst nicht mehr unter Kontrolle hatte und unser Schlagzeuger das zu spüren bekam. Danach habe ich ihn nie wieder gesehen. Den, der irgendwie meinen, unseren, Traum zerstört hat. Tom.
__________________________________

Jetzt ist Abend. Ich sitze noch draußen, versuche die innerliche Unruhe loszuwerden, die mich so lange schon quält. Ich habe nie erkannt, dass man draußen gut entspannen kann. Gut, da, wo ich lebte, war es draußen auch selten so ruhig. Zumindest in den letzten Jahren. Ich will vielleicht noch ein Buch lesen, das ich heute Nachmittag in einem der Regale gefunden habe. Mit der Zeit ist alles schon etwas eingestaubt. Ich schaffe es nicht, lange in diesen Räumen zu sein. Zu viele Gedanken und Erinnerungen hängen an all dem, was ich teilweise nie gesehen habe. In den 5 Jahren habe ich die Dinge nicht alle gesehen. Seltsam oder? Aber ich habe mir vorgenommen, das Haus zu retten, weil es das letzte ist, was Gustav als sein Zuhause sehen konnte und wo immer wieder Arbeit hinein gesteckt hatte. Dieses Haus.

Willkommen!

Herzlich Willkommen auf eingeschichtenhaus.blogspot.com!
Hier könnt ihr Teil haben an der Kreativität, die drei Mädchen hier nach und nach hinterlassen werden. Teilhaben, an den Geschichten und Gedanken.

Wir freuen uns auf die Zeit, auf eure Kommentare. Konstruktive Kritik, Lob etc. ist immer gerne gesehen! Wir freuen uns auf euch.

Lisa, Rita und Jule