Sonntag, 16. Mai 2010

Kapitel 1

Ein Haus. Ein Haus, umgeben von Grün, allen Farben, die unter die Definition von "grün" passen könnten. Ein Haus mit einer schmalen Veranda aus altem, morschen Holz. An einigen Stellen fehlen Dielen, an anderen wurden die alten durch neue ersetzt. Ein Haus mit einem Schaukelstuhl auf der Vorderseite der Veranda, genau so, dass man das Dunkel der Nacht mit den seltenen Lebenszeichen der Natur am Besten aufnehmen kann. Genau so, dass man ohne den Kopf drehen zu müssen die Bäume, die große Wiese vor dem Haus und den kleinen grünen Tümpel mit seinen vielen grünen Pflanzen und grünen Tieren auf einen Blick hat. Ein Haus, das im totalen Gegensatz zu seiner heilen Umgebung steht. Ein kaputtes Haus, so wie man es sich in Kindertagen als Ziel einer Nachtwanderung gemacht hat, so wie eines von denen, die ich damals nie betreten hätte. Ein Haus der Zerstörung, der dunklen Erinnerung. Mein Haus. Das Haus, das ich niemals haben wollte.
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Mein Name ist Bill. Bill Kaulitz. Aber ich heiße einfach nur Bill. Wer heißt schon Kaulitz? Ich bin 21 Jahre alt, aber mit dem, was ich schon erlebt habe, könnte ich die Biografien zehn 80jähriger füllen. Manchmal frage ich mich, ob es eine bestimmte Menge an Erlebnissen gibt, die nicht überschritten werden darf und sonst in einem Menschen einen Erlebnisüberschuss auslösen, sodass sich ab diesem Zeitpunkt das Leben um 180° wendet und alles anders ist als zuvor. Wenn es so was gibt, dann habe ich diesen Punkt vor zirka einem Jahr erreicht.

Ich möchte die Geschichte erzählen. Die Geschichte des Jungen, der anders ist, der mit 15 in ein anderes Leben einsteigt, der dieses Leben führt und mit 20 Jahren umsteigt, wie von einem Zug in den nächsten, nur dass jeder in eine andere Richtung fährt, wo die Welt ganz anders aussieht, und der nun, mit 21 Jahren, in einem kaputten Haus lebt, das für ihn das einzige ist, was er irgendwie noch als wertvoll betiteln könnte. Ich möchte sie erzählen. Meine Geschichte.

Am ersten September 1989 wurde ich geboren, kurz nach meinem Bruder, dem anderen Kaulitz. Mein Bruder, mein Zwillingsbruder. Der Mensch, mit dem ich schon in den frühesten Jahren anfing zu träumen, von einem unabhängigen Leben, frei von Vorurteilen, in einer Welt, in der man einfach tun und lassen kann, was man will, in der man sich wirklich ausleben kann. Wir haben beide relativ früh unsere Leidenschaft entdeckt - die Musik. Und ja, wir haben geträumt, wer tut das nicht? Große Bühnen, viele Menschen, die die Musik mögen, die man macht. Und ja, irgendwann haben wir es geschafft. Unglaublich, oder? Zu dem Zeitpunkt, als wir in den ersten Zug einstiegen, waren wir gerade mal 15 Jahre alt. Aber das machte rein gar nichts. Wir haben einfach unser Ding durchgezogen. Wir hatten die typischen Pannen, Jahr für Jahr, und irgendwann hatten wir es dann tatsächlich 5 Jahre lang durchgehalten. Zu Beginn unserer Karriere hätte das niemand gedacht, WIR erst recht nicht. Nein, wir hatten wirklich nicht nur Fans, es gab immer genug Menschen, die uns nicht nur Gutes wünschten und so lernten wir äußerst früh, was es heißt, sein Leben zu vermarkten. Wir mussten immer nachdenken, was für Folgen alles mögliche mit sich ziehen könnte, was wir tun wollten. Aber irgendwie haben wir jedes Hindernis gemeistert. Und ich bin mir sicher, es lag daran, dass wir zusammen waren, immer. Ich meine, welcher Jugendliche würde es schaffen, mit 15 Jahren aus seiner Kindheit gerissen zu werden und ab diesem Zeitpunkt Vollzeit, rund um die Uhr, zu arbeiten? Es gibt genug Beispiele gegen diese Art von Aufwachsen.

Nun gut, bis hierher klingt doch alles wunderbar. Wo lag also das Problem? Ich denke, ich sollte Namen ins Spiel bringen. Wie gesagt, ich heiße Bill. Meine Mutter wollte uns beiden einsilbige Namen geben. Das ist leichter zu rufen, vor Allem, wenn wir wieder Mist gebaut hatten... und DAS haben wir oft geschafft! Mein Bruder heißt Tom, nicht Thomas, einfach Tom. Und nebenbei, unsere Band bestand nicht nur aus uns, da gab es auch noch Gustav und Georg, manchmal schien es aber, als wären sie bloß unsere Musiker und wir die eigentlichen Bandmitglieder. Ja, die Presse hatte immer viel Spaß mit den "Kaulitz-Twins". Aber wir waren immer zu viert und wir wollten es auch genauso. Nur zu viert waren wir... wir.

Wie gesagt, bis hier her klingt alles gut, wir hatten immer uns beide, um uns auf die Schienen zu retten, wenn die Züge zu entgleisen schienen. Aber irgendwann kam der Punkt, an dem ich nicht mehr die Kraft hatte, ihn zurück zu halten, er dafür die, uns alle aus der Bahn zu reißen, in den Zug, der irgendwie grau und verblasst schien, nicht mehr hell strahlend, funkelnd wir der, in dem wir 5 Jahre unseres Lebens lang unseren Traum leben konnten. Es war irgendwann im Mai 2010, kurzzeitig konnten wir uns vor dem sofortigen Aus unserer Karriere retten, indem wir einfach ein anderes Gerücht in die Welt setzten, so kann man doch wunderbar von der Wahrheit ablenken.

Tom und ich, wir sind in einem Dorf aufgewachsen, da, wo Teenager schon früh an Drogen kommen. Wenn man dann aber durch die weite Welt reist und einem praktisch alle Möglichkeiten offen stehen, dann kann man es leichter übertreiben. Gerade dann, wenn es scheint, als würde die Öffentlichkeit, in der wir lebten, uns immer weiter einengen und irgendwann zerquetschen. Solche Dinge passieren, überall, aber wenn man im Rampenlicht steht, dann sollte es nicht passieren, zumindest nicht so, dass es publik wurde. Und es wurde publik. Als Tom sich selbst nicht mehr unter Kontrolle hatte und unser Schlagzeuger das zu spüren bekam. Danach habe ich ihn nie wieder gesehen. Den, der irgendwie meinen, unseren, Traum zerstört hat. Tom.
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Jetzt ist Abend. Ich sitze noch draußen, versuche die innerliche Unruhe loszuwerden, die mich so lange schon quält. Ich habe nie erkannt, dass man draußen gut entspannen kann. Gut, da, wo ich lebte, war es draußen auch selten so ruhig. Zumindest in den letzten Jahren. Ich will vielleicht noch ein Buch lesen, das ich heute Nachmittag in einem der Regale gefunden habe. Mit der Zeit ist alles schon etwas eingestaubt. Ich schaffe es nicht, lange in diesen Räumen zu sein. Zu viele Gedanken und Erinnerungen hängen an all dem, was ich teilweise nie gesehen habe. In den 5 Jahren habe ich die Dinge nicht alle gesehen. Seltsam oder? Aber ich habe mir vorgenommen, das Haus zu retten, weil es das letzte ist, was Gustav als sein Zuhause sehen konnte und wo immer wieder Arbeit hinein gesteckt hatte. Dieses Haus.

3 Kommentare:

  1. Meine Güte, rita!
    Du legst aber hoch an! Ich habe ja jetzt echt was vor mir, habe aber schon die ein oder andere gute Idee, die ich einbauen will., Ich werde mir Morgen im Laufe des Tages die Zeit dafür nehmen, aber jetzt will ich auf deinen Teil eingehen!

    Die beschreibung des HAUSES ! Der hammer. ich bin richtig begeistert von Allem und ich wusste, dass es gut werden würde, aber SO gut? es war der Burner. es ISt der Burner.

    was ich total!! klasse finde sind die Anfänge, wie sie so gut beschrieben werden! Immer wieder so , dass man an 2005 denkt. Daran, wie Alles begann.

    Ich bin so begeistert. Und dann kam der Schock: Danach habe ich ihn nie wieder gesehen. Den, der irgendwie meinen, unseren, Traum zerstört hat. Tom. !

    Juhuuu. Und es liegt in meiner Hand, wie es weitergeht. Dieses Projekt war die beste Entscheidung seit Monaten, ich bin begeistert!

    ich freue mich auf Alles.
    Das hast du so toll gemacht :)
    weiter so!

    Lisa

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  2. WOW also das hört sich auf alle fälle vielversprechend an...
    aber von euch drei kann das auch nur super werden :) ich werd auf jeden fall weiter lesen und kann das nur allen anderen auch empfehlen!

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  3. Wohoho! Klasse! (:
    Das ist ein wirklich toller und gelungener Anfang!
    Und er lässt so viel offen! Es wird schon viel angedeutet, aber "der Zug" (tolles Bild!) kann noch in alle Richtungen fahren.
    Am Ende ist mir eingefallen, dass auch ich bald eine Weiche für diesen Zug stellen werde und dachte so "ach du Gott - dann lass dir mal was einfallen!".
    Ich bin gespannt wie Lisa das jetzt weitergehen lässt! (:
    Wirklich toll!
    Es ist mal ein ganz anderer Schreibstil - nicht der, den man aus vielen Geschichten kennt.
    Ich-Perspektive und dann eine Mischung aus umgangsprachlichen Formulierungen, durch die man sich so richtig vorstellen kann, dass das jemand denkt bzw. seine eigene Geschichte erzählt und dann wieder das Kreieren von so tollen sprachlichen Bildern, sodass es sich toll lesen lässt.
    Ich bin begeistert! =) ♥
    uuuund gespannt auf Kapitel 2!

    Jule <3

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