Freitag, 9. Juli 2010

Kapitel 10

"Verschwinde. Bill, VERSCHWINDE einfach! Tu es, wie es dein Bruder getan hat! Hau ab, du kannst es eh nicht ändern. Meinst, du könntest alles wieder gut machen mit ein paar Scheinchen, alles, was er agerichtet hat. Angerichtet... Zerstört ... Es wird ihn nicht aufwecken! .. Woher ich das weiß??"
Wie in Zeitlupe sehe ich die Stecker der Reihe nach aus der Wand fliegen, wie der eine noch an sein Bein schlägt dabei und langsam und immer deutlicher das regelmäßige Piepen aussetzt.
Schnell reiße ich mich aus dem Schlaf. Wie immer, wenn man das Gefühl hat, man kann in Träume eingreifen, wenn sie gerade an der schlimmsten Stelle sind. Wenn man gerade merkt, man träumt, dann kann man alles kontrollieren. Wacht auf, liegt im Bett und hört sein eigenes Herz schnell schlagen. Ich sitze im Bett, weiß nicht, was ich tun soll. Ich hatte geträumt, wie ich Gustavs Vater all das Geld von Toms Konto auf den Tisch gelegt habe, den Arzt dazuholte und verlangte, sie sollten ihn wieder aufwecken, mit irgendwelchen höchsttechnologischen Methoden. Ich hatte doch keine Ahnung. Aber es ging einfach nicht. Es geht nicht. Man kann Menschen nicht aufwecken, das müssen sie schon selbst tun.
Ich stehe auf, durch das Fenster am Fußende meines Bettes scheint der Mond. Vollmond. Ich laufe durch mein Zimmer und suche ein Glas Wasser. Ich finde keines. Ich gehe in die Küche, schalte nebenbei das Flurlich an, das flackernd ums Überleben kämpft. Ich setze mich hin und trinke. Sitze an meinem Küchentisch, im Licht einer alten Nachttischlampe. In der Küche gibt es sonst noch kein Licht. Ich sitze an meinem kahlen Esstisch, mitten in der Küche, breite die Zettel aus dem Umschlag, den ich gestern noch erhalten hatte, vor mir aus und versuche, mich einfach zu beruhigen. Einfach zu atmen, ohne mich von dem durchdringenden Pochen aus der Ruhe bringen zu lassen. Gerade, wenn es so ruhig um mich herum ist, kann ich es lauter hören, als hätte ich selbst das Ohr an meiner Brust.
Es gibt Situationen im Leben, da ist einfach nicht klar, was zu erst kommen muss. Da hat man einfach mehreres zu tun, dringendes. Aber was, wenn in der Zeit, in der man A erledigt, B unmöglich wird, kaputt geht? Was, wenn aber B klappt, A aber einfach zerstört wird? Weil man einfach zu lange gewartet hat. Weil es einfach nicht geht.
Die Frage ist, ob eines der beiden Dinge vom anderen abhängig ist. Muss Gustav leben, damit ich Tom finde? Muss ich Tom finden, damit Gustav leben kann? Vielleicht klingt die erste Frage etwas brutal, aber ich muss darüber nachdenken. Warum geht es nicht parallel? Andere Frage - niemand von uns könnte damit leben, den einen unserer besten Freunde zu verlieren; könnte ich mir verzeihen, irgendeine Möglichkeit, ihn zu retten, nicht wahrgenommen zu haben??
Warum kann nicht alles ein böser Traum sein? Warum kann nicht das alte Leben, das ich solange lebte, einfach wieder einsetzen, wenn ich ganz bald aufwache? Warum nicht? Wer ist das, der mir alles nahm? Wer hat mir meine Band, meinen Beruf, meine Freunde, meine Familie, meinen Zwilling genommen? Warum? Verdammte Kacke. Ich beschließe, erst mal ins Bett zu gehen, versuchen, zu schlafen.
Die Vögel wecken mich morgens, nachdem ich gefühlte 15 Minuten geschlafen habe. Immerhin scheinen sie hoffnungsvoll in den Tag zu gehen. Aber meine Rangliste steht jetzt wirklich fest. An allererste Stelle steht natürlich das Leben. Ganz egal wo, Tom lebt. Und Gustav auch. Aber er muss vor allem überleben. Das Problem - ich kann nichts tun. Trotzdem, mein erster Punkt auf der Tagesordnung ist, ihn zu besuchen, möglicherweise seine Familie zu erwischen, einfach irgendwie mit ihnen ins Gespräch zu kommen, zu versuchen, ihnen irgendwie Hoffnung zu geben. Sie dürfen nicht falsch entscheiden. Ich muss Zeit gewinnen. Danach werde ich dann einen Spaziergang machen und ein kleines Telefonat führen. _____________________________________________________

Einen neuen Hund hat Franzi gekauft. Ich hab mit ihr gesprochen, hab ihr erzählt, wie ich voran komme, mit dem Haus, ich hab natürlich nicht die ganze Wahrheit gesagt, die Veranda sei schon fertig. Sie war froh, das zu hören. Und das zeigt mir, sie gibt auch nicht auf. Denkt vielleicht darüber nach, dass es Gustav freuen würde. Vielleicht. Ich weiß es nicht. Auf jeden Fall hat sie mir erzählt, wie sie gestern Mittag geschlafen hat und dann aufgewacht ist und etwas geträumt hat, wie sie im Krankenhaus an seinem Bett säße und Gustav die Augen öffnete und sagte, er wolle einen neuen Hund, einen großen. Und als sie dann aufwachte, ging sie zum Tierheim und kaufte einen. Es läuft alles über Träume.
Naja, das ganze hat mich positiv gestimmt. Wir haben verabredet, uns nun öfters zusammen an sein Bett zu setzen, etwas zu reden, über alles, was es interessantes gibt. Ganz sicher, sie kann es nicht mehr haben, es läuft schon so ewig so und wir alle gehen daran zugrunde. Vielleicht hat mich der nächtliche Traum doch irgendwie umgestimmt, mir einen funken Hoffnung gegeben. Was soll ich auch verzweifeln? Im Selbstmitleid baden? Was soll es bringen? Ich kann es versuchen, kann versuchen, etwas zu erreichen. Und das werde ich jetzt.
Ich gehe den gleichen Weg, wie auch schon gestern. Zum Park in der Nähe unserer Wohnung. Oder alten Wohnung, wie auch immer. Am Wegesrand stehen einige Telefonzellen, grüne Telefonzellen, wieso sie grün sind, weiß ich auch nicht. Ich krame in meiner Tasche. Ich habe vor, heute etwas länger unterwegs zu sein und habe so auch ein bisschen was an Essen und Trinken eingepackt. Wer weiß, wie man sonst an sowas rankommt. Als ich den Briefumschlag gefunden habe, öffne ich die Telefonzelle, vor der ich eben stehen geblieben bin und gehe rein. von hier aus habe ich früher schon immer telefoniert, wenn ich nicht wollte, dass der, den ich anrief, weiß, wo ich bin.
Ich öffne das Formular der Banken, suche im Briefkopf nach der Nummer und wähle. Und es tutet und ich weiß, dass es klappt.