Montag, 17. Mai 2010

Kapitel 3

Hat er jetzt angeklopft oder die Tür einfach so geöffnet? Wahrscheinlich darf man Türen öffnen ohne vorher zu Klopfen, sobald man so einen weißen Kittel trägt. Vielleicht habe ich es auch einfach nicht gehört. Was interessiert mich in diesem Moment auch so ein unwichtiges Geräusch? Ich habe nur kurz aufgeschaut und meinen Blick dann wieder sinken lassen. Auf die Hand, die immer noch so unbeweglich in meiner liegt, als würde sie sich nie mehr bewegen. Die Hand ist zumindest nicht ungewöhnlich kalt, sondern warm und ich spüre den Pulsschlag deutlich, was ich gar nicht erwartet hätte. Vermutlich ist er nur schwach, aber es scheint, als hätte ich mich auf das Wahrnehmen jedes noch so kleinsten Geräusches und Zeichens von Gustav eingestellt, um ja keine Regung, auch wenn die Wahrscheinlichkeit ihres Auftretens niederschmetternd gering ist, zu verpassen. Natürlich regt sich nichts und das durchdringende, unpersönliche Piepen der Geräte, die um das Bett aufgestellt sind, scheint in meinen Ohren immer weiter anzusteigen bis es so unangenehm ist, dass ich mich durchringe ein leises trockenes Räuspern von mir zu geben und somit das Stechen in meinem Ohr durch die andere Wahrnehmung zu vertreiben.
„Herr Kaulitz, ist alles in Ordnung mit Ihnen? Ich würde Sie wirklich gern sprechen, es dauert auch nicht lange. Natürlich kann ich auch später wiederkommen, wenn Sie möchten...“
Die tiefe, aber durchaus sympathische Stimme, die einen warmen und beruhigenden Klang hat, dringt wieder zu mir durch und dieses Mal blicke ich dem Mann in die Augen.
Diese Worte sind sicherlich während seiner Zeit als angehender Arzt gut geübt worden, damit sie eindringlich und dennoch nicht aufdringlich, sondern viel mehr verständnisvoll klingen. Nichtsdestotrotz ist ihm ein Fehler unterlaufen. Zwei sogar. Selbst wenn man mich nur von hinten sieht, erübrigt sich die Frage, ob wohl alles in Ordnung mit mir wäre von allein und wenn man dazu noch feststellt, dass ich an dem Krankenbett eines meiner besten Freunde sitze, welcher seit Monaten im Koma liegt, könnte man sogar meinen, diese Frage sei unangebracht. Wie dem auch sei. Das ist unwichtig, das habe ich schon so oft gehört in dieser Zeit. In diesem, meinem zweiten, Lebensabschnitt, in dem alles anders ist und ich mich immer wie ein Fremdkörper, der nicht recht in seine Umgebung passen möchte, fühle.
Was für einen bloßen Betrachter vermutlich viel verwunderlicher ist, ist die Tatsache, dass ich bei dem Klang meines Nachnamens innerlich zusammengezuckt bin. Äußerlich hätte man es nur in meinem Blick erkennen können, ansonsten habe ich mich nicht geregt. Dennoch durchfährt mich ein kühles Stechen in der Brust und mein Nacken wird heiß, wenn ich meinen Nachnamen höre. Kaulitz. Aber ich heiße einfach nur Bill. Das wisst ihr mittlerweile. Loswerden kann ich diesen Namen und all die Erinnerung, die dabei an meinen älteren Bruder, der immer ein Teil von mir und gewisser Weise ein Spiegel meiner selbst war, in dem ich mich erkennen und verstehen konnte, nicht. Sowohl meine guten als auch meine schlechten Eigenschaften spiegelte er wider. Doch irgendwann verschwand mein Spiegelbild immer weiter aus ihm und es blieb nicht viel von der Vertrautheit, in der ich mich mein Leben lang sicher gefühlt hatte, auch wenn ich jung und weit weg von Zuhause war, übrig.
Doch natürlich muss ich auf diesen Namen reagieren, also schaue ich auf in das freundliche Gesicht des jungen Arztes. Ich kenne ihn. Schon bei meinem letzten Besuch, der unentschuldbar lange zurückliegt, habe ich ihn getroffen.Ich räuspere mich noch einmal. Dieses Mal lauter, um sicherzugehen, dass meine Stimmbänder das tun, was sie sollen.
„Ja… also nein, Sie müssen nicht später mitkommen. Ich… ich komme schon“, antworte ich mit einer Stimme, die trotz Bemühung monoton und irgendwie fremd klingt.
Ich stehe also auf und gehe auf den Mann im weißen Kittel zu, der, als er merkt, dass ich ihm folgen werde, raus auf den Flur tritt und sich suchend umschaut. Er scheint zu überlegen, ob er mit mir in sein Büro gehen soll, welches schräg gegenüber ist. Natürlich kann er das aber nicht machen, denn wer bin ich denn schon? Ich bin Bill. Bill Kaulitz, der Bruder von Tom Kaulitz. Wahrscheinlich interessiert ihn das nur sekundär. Ich bin einfach ein Freund eines Patienten und in keiner Weise ein Angehöriger. Sicherlich weiß er, dass die Eltern dieses Patienten nicht mit mir sprechen wollen, was die Situation nicht verbessert.
Wir bleiben also in einer Ecke auf dem Flur neben einem Wagen mit Bettlaken und Reinigungsmitteln, die einen eindringlichen Geruch verströmen, stehen.
„Wie geht es Ihnen?“, fragt er und klingt dabei aufrichtig.
„Was wollen Sie mir sagen?“, ist meine ausweichende Antwort, bei der ich mich aber um ein kleines Lächeln zu bemühen versuche, damit es nicht so abweisend klingt, wie ich es meine. Weil ich einfach nicht anders kann, als abweisend zu sein. Ich merke jedoch selbst, dass mein versuchtes Lächeln nur ein gequältes Verziehen des Mundes ist und lasse es wieder sein. Es stimmt, ich habe wirklich seit Monaten nicht mehr gelacht.
„Sie wissen wie Gustavs derzeitiger Zustand ist?“, fragt er ohne sich anmerken zu lassen, dass ich ihm eine Antwort auf eine scheinbar so alltägliche Frage verwehrt habe.
„Ja, ich telefoniere regelmäßig mit seiner Schwester. Er ist… er ist… zumindest stabil.“ Meine Worte werden zum Ende hin leiser. Was soll man auch sagen? Er ist gefangen in seinem Körper, nicht in der Lage sich zu regen und niemand kann sagen, ob und was er wahrnehmen kann. Ob er träumt oder sein Geist völlig erstarrt ist.
„Ich weiß, dass die Schäfers nicht mit Ihnen sprechen, abgesehen von Franziska. Ich denke aber, dass Sie wissen sollten, dass wir einen Zeitpunkt überschritten haben, ab welchem ich keinerlei Hoffnung mehr aussprechen kann, so gerne ich es auch tun würde. Die Wahrscheinlichkeit, dass Gustav noch einmal aufwachen wird, ist geringer als 6 Richtige im Lotto zu haben.“ Schweigen. Ich kann darauf nichts sagen. Meine Augen sind trocken und beginnen nun zu jucken. Ich beiße mir auf die Lippe, um zu verhindern, dass sich eine Träne den Weg über meine Wange bahnen kann.
„Fuck“ ist das Einzige, was ich nach einer halben Minute entgegnen kann. Natürlich weiß ich wie es um Gustav steht. Wozu telefoniere ich denn mit Franziska? Aber wenn dieser Kerl mir das sagt, obwohl er mir eigentlich überhaupt kein Sterbenswörtchen verraten darf, heißt das, dass Gustavs Eltern überlegen das Ganze zu beenden. Sie wollen ihn aufgeben. Vermutlich wollen sie, dass er endlich seinen Frieden finden kann oder wie man so eine Scheiße sonst noch formuliert. Nachvollziehbar?! Vielleicht. Verständlich?! Auf keinen Fall. Nicht für mich.
Nicht für mich, bei dem alles daran hängt, ob es vielleicht noch eine zweite große Wendung in meinem Leben geben wird, indem Gustav wieder aufwacht.
Ich lebe momentan nur noch für diese eine Chance, für diese verschwindend geringe Wahrscheinlichkeit, dass Gustav wieder zu uns stößt. Dass es ihm wieder gut gehen wird und ich ihm sagen kann, dass er sein Haus behalten kann. Dass ich es retten konnte. Dass ich wenigstens irgendetwas retten konnte, wenn ich auch schon bei viel zu viel anderen Dingen nicht im Stande war sie zu retten oder noch zum Guten umzukehren.
Gibt es eine andere Möglichkeit, dass es wieder gut werden könnte, als die, dass Gustav das Koma besiegt? Kann ich unter anderen Umständen meinen Bruder zurückgewinnen, als vielleicht und auch nur vielleicht dadurch?!
Bin ich egoistisch, wenn ich so denke? Das habe ich mich schon oft gefragt. Was meint ihr – bin ich es?

„Haben sie sich schon entschieden?“, frage ich dann doch noch nach einer Ewigkeit, in der ich es geschafft habe, dass die Dumpfheit, die mich die meiste Zeit umgibt, wieder umhüllt und somit jegliche Möglichkeit eines Tränenbaches erstickt.
„Nein, sie wollen drüber nachdenken. Natürlich habe ich da nicht zu geraten, aber es ist meine Pflicht die Eltern, die die Vollmacht haben, über die Situation in Kenntnis zu setzen…“, fährt er fort, doch ich unterbreche ihn. 
„Ja, ich weiß. Es ist Ihre Pflicht. Ich hatte auch mal viel Pflichten. Doch ich musste sie nicht allein tragen. Ich hätte sie auch gar nicht allein tragen können. Dann ist mein größter Stützpfeiler eingebrochen und auch die Pflichten, die ich doch allein getragen habe, konnte ich nicht einhalten. Es ist gut, dass Sie Ihrer Pflicht nachkommen. Danke, für ihre Offenheit.“ Mit diesem mehr lauten Gedankengang als wirklichem Antwortsatz drehe ich mich um und gehe den Flur runter.

„Herr Kaulitz, es tut mir Leid. Aber ich vermute, es bleibt Ihnen nicht mehr viel Zeit sich zu verabschieden“, ruft er mir noch hinterher und ich bin mir sicher, dass es ihm wirklich nahegeht.
Ich bin nicht im Stande ein Zeichen der Wahrnehmung seiner Worte von mir zu geben und eile mit zwei großen Schritten ins Zimmer von ihm. Meinem Drummer. Einem meiner besten Freunde, mit dem ich so unglaublich viel erlebt habe.
Wie angewurzelt bleibe ich stehen und schaffe es nicht, vollständig in den Raum zu treten.
„Ich muss jetzt gehen. Aber wir sehen uns wieder. Ich verspreche es dir. Ich verspreche es dir, dass ich für dich kämpfe so wie für dein Haus. Weil man den Glauben in etwas nicht verlieren darf. Nie. Ich… ich komme bald wieder.“
Jetzt passiert es doch und salzige Tränen bahnen sich einen Weg aus meinen brennenden Augen. Verschleiern mir die Sicht auf ihn. Fließen langsam über meine Wangen nach unten. Als ich das Geräusch des ersten auf dem Boden auftreffenden Tropfens höre, drehe ich mich um und verlasse das Zimmer. Auf dem Weg den Flur runter in Richtung Ausgang werde ich immer schneller.

„Herr Kaulitz, es tut mir Leid. Aber ich vermute, es bleibt Ihnen nicht mehr viel Zeit sich zu verabschieden“ Herr Kaulitz. Wer ist das? Bin ich das oder ist er das? Früher waren wir es. Wir. Jetzt kann ich es nicht mehr sagen. Ging das wirklich an mich oder vielleicht an ihn? Sollte nicht derjenige, der das alles verursacht hat , zurückkehren und sich wenigstens verabschieden?
Ich weiß nicht einmal, ob es ihn interessiert oder ob er noch im Stande ist, es zu realisieren. Vielleicht nimmt er von dieser, der wirklichen Welt schon gar nichts mehr wahr.
Wenn ich ehrlich zu mir selbst wäre, würde ich mir eingestehen, dass ich nicht einmal weiß, ob er überhaupt noch lebt oder ob er an dem ganzen Scheiß schon zu Grunde gegangen ist.
Was ich weiß, ist, dass es weitergehen muss.
Ich darf jetzt nicht im Stillstand stillstehen. Ich muss mich in ihm fortbewegen, um ihn zu besiegen. Wie genau? Ich weiß es nicht.
Das Haus. Es ist noch nicht wieder repariert. Da darf ich nicht aufgeben.
Meine Geschichte ist noch nicht zu Ende geschrieben. Ich muss sie fortführen. Auch seine Geschichte ist noch nicht zu Ende und ich muss dafür sorgen, dass sie es nicht bald sein wird. Weil er es gerade nicht kann.
Und was ist mit seiner Geschichte? Ich habe sie aus den Augen verloren. Obwohl wir damals ein und dieselbe Geschichte hatten. Unmöglich voneinander zu trennen. Ein nicht lösbares geflochtenes Band. Aber nun? Zerrissen. Ich werde die Bänder wieder verknüpfen. Ich muss es zumindest versuchen.
Ich werde sie verknüpfen und dann werde ich auch seine Geschichte weiterschreiben. Wir werden seine Geschichte weiterschreiben. Nur für eine Weile. Weil er es nicht kann. Gerade nicht kann.

Geblendet von dem gleißenden Sonnenlicht, das die Straßen durchflutet und das komplette Leben in seinen schönsten und hässlichsten Farben leuchten lässt, trete ich nach draußen.
Natürlich kommt jetzt kein Bus. Aber das ist egal. Ich beginne zu laufen. Ja, richtig zu laufen. Ich weiß nicht, wann ich das das letzte Mal getan habe.

Aber ich weiß, wer ich bin.
Ich bin Bill Kaulitz. Ich bin der Bruder von Tom Kaulitz. Und das ist unsere Geschichte.

2 Kommentare:

  1. Oh gott, ich weiß nicht, was ich sagen soll!
    Ich war früher schon immer so begeistert davon, wie du schreibst und ich bin es noch heute. Ich könnte jetzt einige Stellen zitieren, die mir wahnsinnig gut gefallen haben, aber das ist nicht der Sinn. ich kann nur sagen, dass der Schluss des Kapitels dermaßen fantastisch ist. Alles wird so deutlich. Die Verzweiflung, die Trauer - einfach Alles.
    Ich bin spraachlos!

    das ist unsere Geschichte.
    Wie du das Alles so beschreibst, es ist der Hammer. Wenn ich von dir was lese, dann ist das immer so besonders. Bei mi rhabe ich das Gefühl das ist so hingeschrieben, bei dir aber ist es was ganz besonderes.

    Als es um Abschied ging sozusagen musste ich sogar ein paar kleine Tränchen vergießen. Du weißt ja, ich und abschied. Ich hasse sowas und mwenn ich mir dann vorstelle, wie B. sich fühlen muss - furchtbar. Es ist Alles furchtbar und ich wünsche mir so sehr, dass sich Alles zum Guten wendet. Ich fühle mit. Und ich bin gespannt, was mit Tom ist.

    Es ist ein wahnsinnig besonderes Gefühl., dass wir drei das zusammen auf die Beine stellen und etwas gemeinsam schaffen. Also schaffen im Sinne von ERschaffen. ich bin begeistert. Immer mehr. Und es ist die Entspannung und Erfüllung, nach der ich seit Monaten suche.

    ich danke dir für dieses wundervolle Kapitel.
    In Liebe, Lisa

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  2. Jule, das ist der Hammer!! Ich bin sooo begeistert. Ich hab eben schon bei twitter gelesen, dass es gut sein muss, aber SO gut. Ich bin richtig begeistert! Und jetzt muss ich sehen, wie ich da weiterkomme und das Niveau wieder runterziehe ;D;D

    Das ist sooo gut geschrieben alles. Das ist ein völlig anderer Bill jetzt. Bill Kaulitz, Bill. Ich will nicht wissen, wie es ihm geht, er geht Gustav zum ersten Mal besuchen und erfährt, dass das vielleicht das letzte Mal war.

    Ah, ich bin so, so froh über das alles, immer wenn ich was neues lese. Das Ende hier ist der Hammer. "Aber ich weiß, wer ich bin. Ich bin Bill Kaulitz. Ich bin der Bruder von Tom Kaulitz. Und das ist unsere Geschichte." - das ist alles so, so gut geschrieben, ich könnte das noch zehn mal sagen. Und ich würds auch tun, müsste ich nicht gleich los :D

    Jetzt freu ich mich noch mehr über alles hier, jetzt können wir unseren Bestseller schreiben :D Das ist wunderbar (:

    Ich denke an dich!! Kuss Rita

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