Dienstag, 18. Mai 2010

Kapitel 4

Manchmal frage ich mich, wo eine Geschichte beginnt und wo sie aufhört. Ab welchem Punkt darf ich hier nicht mehr von 'unserer' Geschichte erzählen, sondern nur noch von meiner? Ich lebe mein Leben mittlerweile mehr mit den Vögeln in meinem Garten zusammen, als mit meinem Bruder. Es ist ein ungewöhnliches Gefühl, ich möchte nicht darüber nachdenken, dass ich alleine bin. Alleine. Das klingt so kalt, so einsam, aber was bin ich denn? Ich laufe durch die Straßen, irgendwohin, wo mich niemand beobachtet, dort wo ich alleine bin. Ich habe nicht das Gefühl, als wäre ich jetzt, wo so viele Menschen an mir vorbei gehen, nicht alleine. Ich weiß gar nicht, ob sie mich überhaupt wahrnehmen. Es sind die üblichen Menschen, die zielgerichtet ihrem Alltag nachgehen, blind ihrer Umwelt gegenüber. Wieso sollten sie also aufsehen, wenn ihnen dieser Mensch entgegenläuft, scheinbar dabei, sein tägliches Sportpensum zu bewältigen. Ja, ich kann es verstehen, diese Menschen lieben ihren Alltag. Alles muss voran gehen. Mittags um 12 müssen die Einkäufe im Kühlschrank sein, nachdem vormittags schon die Wohnung gesaugt und gewischt wurde, sodass alles fertig ist, wenn um halb zwei die Kinder nach Hause kommen. Mittagessen wird also bis dahin gekocht. Nachmittags pendelt es dann zwischen Kinderbeschäftigung und bei den Hausaufgaben helfen, damit abends alles fertig ist und die Familie noch gemeinsam fernsehen oder Mensch ärgere dich nicht spielen kann. Die Tage sind durchstrukturiert, da reicht schon ein kleiner Stau auf dem Weg nach Hause, um die Menschen aus der Reihe zu bringen.

Ich brauche diesen Alltag nicht. Ich komme auch so klar, ich hatte doch nie einen Alltag. Was habe ich mich früher für Schule interessiert? Ja, meine Mutter hatte des Öfteren die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen, als ihre Söhne, als wir, mal wieder mit dem ganz normalen Schulkram und der ganz normalen Miene nach Hause kommen und erzählen, wie unser ganz normaler Schultag war, sie aber vorher schon von unserem Klassenlehrer einen Anruf bekommen hatte, warum wir denn ohne Abmeldung nicht zur Schule gekommen waren. Naja, und danach war dann von Alltag auch nicht mehr zu sprechen. Jeden Tag ein neues Hotel, eine neue Stadt, oft sogar ein neues Land. Ich brauche keinen Alltag. Das würde mich bloß fertig machen. Langweilen.

Aber ich habe einen Entschluss gefasst. Jetzt, wo mir der frische Wind so durchs Gesicht fegt, da weiß ich, ich kann nicht mehr stehen bleiben. Ich kann nicht nach Hause gehen und irgendwas tun. Ich muss was wirkliches tun, etwas, das ich mir vornehme. Ich kann nicht zu Hause sitzen und warten, bis etwas passiert, mir wird nicht mehr vorgelegt werden, wann ich wo zu sein habe, wie ich wann gucken muss und was ich wann essen sollte, ich muss es jetzt selbst in die Hand nehmen, ich kann nicht warten, bis mein unglaublich guter Freund, ein Mensch, der 5 Jahre lang so gut wie immer bei mir war, stirbt, bis seine Eltern ihn.. umbringen. Nein, das tun sie nicht, ich weiß das doch, aber... ich kann das einfach nicht, ich muss doch irgendwas tun..

Die Ampel wird grün und die Menschenmasse setzt sich in Bewegung, gesteuert von ihrem inneren Trieb nach Alltag. Ich reihe mich ein, nicht in den Alltag, in die Masse. Aber auf der Mitte der Straße, einer kleinen Verkehrsinsel mit gelben Blumen an den Rändern, drehe ich um und gehe zurück. Die Ampel ist schon wieder rot, aber es hupt niemand in der Reihe der Autos, die darauf wartet, sich endlich in Bewegung setzen zu können. Also beeile ich mich, ans Ende des Fußgängerübergangs zu kommen und dann schnell in die Richtung zu laufen, aus der ich gerade gekommen war. Ich muss jetzt dahin, es hat ja eh keinen Sinn. Ich weiß den Weg ganz genau, wie oft bin ich ihn gelaufen in letzter Zeit. Wir waren gerade erst eingezogen, zu oft mussten wir die Adresse wechseln, weil irgendwelche Menschen sie wieder einmal herausgefunden und uns aufgelauert hatten, trotzdem weiß ich ganz genau, wo ich lang muss. Am Anfang hab ich mich immer an der Hauswand orientiert mit dem großen Plakat, das für irgendein Hotel wirbt. Aber das Plakat stoch direkt ins Auge, durch seine unglaubliche Farblosigkeit im Gegensatz zu der roten Hauswand, an der sie hing. Seltsam, oder? Auf jeden Fall muss man hinter diesem Haus mit dem Plakat rechts reinbiegen und dann die zweite links. Es ist nur ein schmaler Weg und wahrscheinlich würde niemand darauf kommen, dass wir dort wohnten, aber genau das ist der Punkt. Von außen sieht es aus wie eine Barracke, wie etwas, wo niemals so ein.. Weltstar.. leben würde. Aber innen ist es total schön! Wir haben immer eine Wand in jedem Zimmer bunt gestrichen! Und ich habe richtig tolle Bilder und Möbel ausgesucht. David hatte mir damals mal jemanden vorgestellt, nach irgendeiner Feier und auf jeden Fall hat der mir dann mal die Möbel gezeigt, die einer seiner Geschäftspartner macht und die haben mir so sehr gefallen - vor Allem sind es Einzelstücke !! -, da hab ich sie einfach mitgenommen. Naja, also so war das zumindest. Und ich hab natürlich keine Ahnung, wie es jetzt ist, wer weiß, vielleicht wohnen ganz andere Menschen dort, ich hatte den Vertrag ja nie, Tom wird die Wohnung wohl verkauft haben und ich wüsste auch nicht, wieso nicht und bin mir auch total sicher, aber ich will es versuchen. Ich weiß, was er getan hat und er ist der größte Idiot, ein verdammter Idiot, aber ich weiß genau so, dass ich es nicht bin. Und ja, ich bin unglaublich sauer und ich werde es immer sein, ich werde ihm das niemals verzeihen. Aber ich weiß, dass es jetzt noch zu retten ist. JETZT noch. Wer weiß, was in ein paar Tagen ist? Aber ich alleine kann es nicht retten. Kann ihn nicht retten. So schwer es mir auch fällt, es mir selbst einzureden, aber ich brauche ihn an dieser Stelle. Anders geht es einfach nicht.

Nach mehr als 20 Minuten laufen, bin ich an der Ecke angekommen. Das wurde auch Zeit, ich hatte nie die besondere Kondition und würde es mir gerade nicht so wichtig sein, wäre ich auch nicht nur die Hälfte der Strecke gelaufen. Das Plakat wurde jetzt durch eins für irgendeinen Online-Blumenhändler ersetzt, in grellen, bunten Farben und irgendwie finde ich das ganz schön unpassend, immerhin ist doch die Wand schon rot. Aber was solls, ich werds mir merken, für das nächste Mal, wenn ich hier bin, falls ich noch ein mal hier sein werde.

Die kleine Straße sieht genau so aus wie immer. Die Türen, die in die kleinen Wohnungen führen, in denen meist irgendwelche von der Welt abgeschnittenen Menschen leben, sind mit den selben Vorhängen behangen wie immer. Eigentlich seltsam, da wohnt man praktisch mitten in der Stadt, aber nur dadurch, dass man nicht mehr auf der großen Hauptstraße wohnt, ist es schon ein ganz anderes Leben. Sobald man auf den Weg hinter der Ecke kommt, scheint alles stiller, gedämpfter, als hätte jemand plötzlich einen Wattebausch zwischen das Leben in der Stadt und das Leben hier gestopft. Eine Katze kratzt sich an der unruhigen Struktur der Steinwand den Rücken und sieht mich nicht sehr erfreut an, als sie mich ihr entgegenkommen sieht. Ich hab jetzt keinen Nerv, sie umzustimmen, also gehe ich einfach an ihr vorbei. Soll sie sich schön weiter die Flöhe aus dem Fell sortieren und mich gehen lassen.

Die zweite Straße von links. Beim Abbiegen wird es dann irgendwie noch düsterer und noch stiller. Aber so ist es und genau so sollte es auch sein. Die Tür sieht man sofort, auch wenn sie nicht gerade zum Eintreten einlädt. Unsicher darüber, was das überhaupt alles soll und wie es weitergehen soll, klopfe ich an und warte auf irgendein Anzeichen, dass jemand da ist.

Ich klopfe noch mal. Und noch mal. Und dann wühle ich in meiner Tasche, bis ich endlich einen Prospekt finde, den ich heute morgen noch aus dem Briefkasten gefischt hatte, bevor ich losgegangen bin. Auf die Rückseite schreibe ich 3 Sätze, 10 Wörter.

"Er kann nicht mehr. Melde dich. Ich brauche dich. Bill"

3 Kommentare:

  1. Ich habe gerade alle vier Kapitel durchgelesen und ich bin begeistert! Die Geschichte ist wirklich schön und ich bin schon gespannt, wie es weitergeht. Hoffentlich schreibt ihr noch mehr zu dem Absturz der Band, Gustavs Unfall und Toms Verschwinden. Ich freue mich schon :)
    Bis gestern Abend habe ich zwei FFs gelesen, die eine (Dead Secret Society, absolut zu empfehlen, falls ihr Interesse habt!) habe ich jetzt durch und die andere (von TH-Wonderland) kommt erstens nicht wirklich voran (das letzte Kapitel kam vor 10 Tagen) und der Inhalt spricht mich auch nicht so wirklich an. Allerdings heißt die Hauptdarstellerin Pia, deswegen wollte ich sie lesen und jetzt wissen, wies ausgeht (sollte da irgendwann mal ein Kapitel folgen) xD
    Deswegen bin ich froh, jetzt wieder was zu lesen zu haben :)
    Ich hab euch lieb <3
    Pia

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  2. woah Rita, ich bin echt begeistert! Ein toller Teil, auch wenn so gut wie nichts passiert. Die Beschreibungen des Alltags - es stimmt so sehr! Das ist ja echt der Hammer. Ich weiß nicht, ob es daran liegt, dass wir uns kennen oder ihr SCHREIBT einfach so verdammt gut. ich bin immer begeisterter!
    So kleinigkeiten werden zu dem besonderen. Ich kann es kaum glauben, dass wir das so schön machen!

    Ich leide mit Bill. Und ich kann mir Alles so gut vorstellen, ich habe Alles bildlich vor Augen. Es ist der Hammer! Bill ist so verzweifelt, aber jetzt irgendwie doch voller Hoffnung.

    Grad wollte ich schreiben 'Ich will wissen, wie es weitergeht' Es ist so krass, hahaha. =D es liegt in MEINER Hand. Ich finde grad dass wir das zu dritt machen, macht das zu dem, was es ist: Ein Meisterwerk! Ich spüre, dass es immer besser wird und ich finde es großartig!

    Dein Schreibstil ist großartig! Ich könnte 1000284734 Sachen finden, die ich gerne zitieren würde, aber ich will es ja nicht übertreiben!

    Ich liebe dich!
    deine Lisa

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  3. Hallo liebe Rita! (:
    Toll!! Was redest du bei Twitter von wegen niveau ruterziehen?! So ein Mist! (:
    Dein Schreibstil ist herrlich und ich habe es genossen diesen Teil zu lesen.
    Es ist einfach super spannend zu sehen, was ein anderer aus den eigenen begonnenen Gedankengängen macht.
    Es wird nie genauso kommen, wie man es sich vorgestellt hat, hätte man selbst zwei Kapitel hintereinander geschrieben - gerade das ist toll!(:

    Also ich bin auf jeden Fall schon jetzt begeistert von unserer Geschichte! :)

    Du hast in die Verzweiflung einen Hoffnungsschimmer gebracht und das ist toll! :)

    Dieses Mal kann ich ja wieder/noch schreiben: Ich bin gespannt wie es weitergehen wird!! :)
    hihi.

    Wirklich gut geworden!!
    Ich denke an dich. <3
    Kuss, Jule <3

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