Donnerstag, 20. Mai 2010

Kapitel 6

Nachdem ich den Brief bis zu dem Absatz gelesen hatte, ist mein Blick nach unten gewandert. Warum genau, weiß ich nicht. Vielleicht einfach um zu prüfen, wie lang der Text noch ist. Wie viel ich noch von ihm lesen darf und gleichzeitig muss. Denn es tut gut seine Handschrift zu sehen und zu merken, dass ich wohl doch noch eine Rolle in seinem Leben spiele, wenn er diese Zeilen an mich richtet. Dennoch schmerzt es auch, da sowohl der Inhalt keine schöne Abendlektüre darstellt, mit der man sich gemütlich in einen Sessel mit Decke kuscheln möchte, aber vor allem auch die bloße Tatsache, dass er schreibt – dass ich nach so langer Zeit des Alleinseins gerade von ihm eine Nachricht bekomme – tut weh, denn es zeigt wie viel passiert ist und das nichts mehr so ist wie es war, wahrscheinlich nie mehr so werden wird und wie weit wir uns mittlerweile voneinander entfernt haben.
Wie auch immer. Mein Blick war auf jeden Fall über den restlichen Teil des Briefes geglitten und als wären sie in Signalfarben markiert, erfassten meine Augen sofort die wichtigsten Schlüsselwörter des letzten Teils und mein Gehirn setzte sie in Sekundenbruchteilen um, sodass mich sofort – ohne wirklich zu lesen – die Erkenntnis traf, dass dieser letzte Teil des Briefes der schrecklichste war.
Nachdem mich diese Erkenntnis durchströmt hat, lasse ich den Brief sinken, atme tief ein und aus und starre einfach nur ins Grüne. Gegenüber der Bank findet man die verschiedensten Grüntöne, wenn man die Wiese, die von Bäumen mit üppigen Baumkronen umgeben ist, und auf der verschiedenste kleine Blumen wachsen. Die verschiedenen Farbtöne verschwimmen vor meinen Augen, da ich einfach nur ins Nichts starre. Unfähig etwas mit den Augen zu fixieren. Genauso unfähig aus dem Strom meiner Gedanken einen einzelnen zu greifen und diesen festzuhalten. Alles scheint einfach an mir vorbeizuziehen und ich sitze teilnahmslos da. Handlungsunfähig.
Nach ein paar Minuten reiße ich mich mit einer kleinen inneren Kraftanstrengung aus diesem tranceähnlichem Zustand. Langsam schließe ich die Augen und versuche meine Konzentrationsfähigkeit in mir wiederzufinden. Noch einmal atme ich tief ein und aus, öffne dann die Augen und hebe den Brief, den ich auf meinen Schoß hatte sinken lassen, mit zitternden Händen wieder an.
Konzentriert less ich diesen letzten Absatz. Dann sitze ich da. Äußerlich erstarrt. Innerlich aufgewühlt wie noch nie in meinem Leben.
Egal, was bisher passiert war und egal wie schlimm alles war. Egal, was ich die letzten Monate für Wut und Enttäuschung ich in mir gefühlt habe. Im Moment war es nicht wichtig. Nahezu unbedeutend.
Wie kann es sein, dass es, wenn man glaubt, man habe nahezu alles verloren und das Leben könne nicht schlimmer werden, wieder vom… ja von wem eigentlich?! Schicksal? Zufall? Eine höhere Macht? Von wem auch immer – dass noch mal einer drauf gesetzt wird, sodass es keinerlei Halt, sondern nur noch einen tiefen, gähnenden Abgrund zu geben scheint. Ein schwarzes Loch, das alles, was mir etwas bedeutet und mich mal glücklich gemacht hat, absorbiert. Verschwinden lässt und ich selbst, umgeben von nichts, zurückbleibe.
Ich kann es nicht glauben. Das kann nicht wahr sein. Die Wörter des letzten Abschnitts wirbeln unkoordiniert in meinem Kopf herum. Brachten ihn zum Schwirren.
Will es dir nicht sagen, damit du Mitleid hast. Habe schon vorher versucht dich zu erreichen. Habe Angst, dass die Zeit jetzt nicht mehr reicht. Diagnose gab es letzte Woche. Weiß nicht, ob ich den nächsten Sommer noch erlebe. Möglichkeit der Heilung besteht. Bisher noch keine genauen Aussagen möglich. Ich habe Angst. Ich brauche dich. Weiß, dass ich unglaublich viel falsch gemacht habe. Will kein Mitleid und kein Verzeihen nur deswegen. Du musst es wissen. Immer noch die wichtigste Person in meinem Leben. Habe dir viel angetan. Will dich nicht belasten, brauch dich dennoch. Kein Grund mir zu verzeihen. Muss meine Zeit nutzen, um Verantwortung zu übernehmen.
Alle diese Satzstücke vermischen sich zu einem einzigen Gedankenbrei, in dem ich zu versinken und zu ersticken drohte.
Weiß nicht, ob ich den nächsten Sommer noch erlebe. Möglichkeit der Heilung besteht. Immer noch die wichtigste Person in meinem Leben.
Ja, er hat recht. Diese Tatsache macht die Ereignisse nicht ungeschehen. Ganz und gar nicht. Es ist auch kein Grund ihm zu verzeihen und alles ist wieder gut. Aber für den Moment ist es einfach nicht mehr der zentrale Dreh- und Angelpunkt meines Lebens, auch wenn es das so lange Zeit jetzt so gewesen war.
Er war, bleibt und wird immer mein Bruder sein. Mein Zwillingsbruder. Und DAS durfte einfach nicht passieren. Es scheint so, als würde die Zeit jetzt wirklich davon laufen. Nicht nur Gustav, sondern auch ihm – Tom. Soeben hatte ich beschlossen Gustav zu helfen und dazu auch wieder Kontakt zu Tom zu suchen. Weil es doch einfach unsere Geschichte war. Nun läuft auch Tom selbst die Zeit weg. MIR läuft die Zeit weg.
Eine Trennung wegen so viel Dingen , die sich ereignet haben. Eine Sache. Eine Trennung für immer. Auf diese Art und Weise. Unmöglich.
Doch was soll ich tun? Kann ich überhaupt was tun? Alles scheint einfach unlösbar.
Ich muss zu ihm. Es verändert an Tatsachen nichts, doch es könnte dennoch etwas bewirken. Oder war das nur ein Wunsch? Doch was könnte ich jetzt sonst tun? Ich hatte beschlossen weiterzumachen. Den Stillstand zu besiegen. Ich hatte mir vorgenommen drei Geschichten weiterzuführen. Gustavs, Toms und meine eigene. Meine Geschichte würde in dem Moment enden, in dem das letzte Kapitel der beiden geschrieben waren.
Die Verbindung, die ich mit meinem Bruder mein Leben lang geteilt hatte und das Vertrauen und Verständnis, das wie durch ein unsichtbares Band zwischen uns bestanden hatte, überbrücken nun alle Differenzen. Sie bleiben weiterbestehen. Es löscht sie nicht aus meinem Gedächtnis. Nicht einen einzigen Moment. Doch ich kann sie ausblenden und die Kluft zwischen uns überbrücken. Weil er mein Zwillingsbruder ist. Weil wir immer miteinander verbunden sein würden.
Es darf nicht passieren. Es wird nicht passieren. Nicht solange ich da und in der Lage zu handeln bin.
Ich muss zu ihm. Jetzt.
Ich suche panisch nach dem kleinen Zettel, auf dem die Daten von Tom standen. Mein Herz setzt einen Moment aus. Er ist weg. Einfach nicht mehr da. Was tun?! Wem bitte habe ich etwas getan, damit ich das alles verdiene?!
Doch da ist er. Die Erleichterung durchströmt mich warm und ich bekomme ein schon fast euphorisches Gefühl in mir.Ohne auf noch irgendetwas zu achten renne ich los. Ich kenne die Adresse.
Ich bin Bill. Bill Kaulitz. In diesem Moment bin ich wieder Bill Kaulitz. Weil es gerade das ist, was zählt. Kaulitz.Ich werde jetzt unsere Geschichte schreiben. Irgendwie.

4 Kommentare:

  1. OH MEIN GOTT!
    ich bin so platt. Also ich wusste ja schon ca, was du jetzt machen willst, aber dass du es umsetzt, wie du es umsetzt. Ich bin fertig mit den Nerven! Du hast es so geil gemacht.

    wie er den Brief liest, wie du seine Gefüphle beschreibst.. und dann auf einmal dieses AUFDIEFOLTERSPANNEN durch die Beschreibung des Ortes. Grüntöne. In dem mOemnt dachte ich nur "Was interessieren mich die scheiß Grüntöne? ich will wissen, was in dem Brief steht!" also wirklich. Einfach rictig gut.

    Die Spitze des Eisberges ist es, dass du so den Brief nicht schreibst, sondern die Teilstücke, wie sie in Bills Kopf sind. Das ist dermaßen klasse, ich finde gar keine Worte dafür! WAHNSINN!

    Ich bin sprachlos. Bill tut mir Leid, doch trotz Allem habe ich dieses wahnsinnige Hoffnungsgefühl in mir, dass Alles gut werden kann. nur irgendwie auch langweilig, wenn Alles schnell wieder gut wird. Es ist heftig, was wir in 6 Kapiteln schon Alles erschaffen haben.

    Unglaublich, was wir mit dieser Geschichte auf die Beine stellen! Ich bin beeindruckt und begeistert. und finde keine Worte für All das. Und wie viel mir das bedeutet, dass wir das zusammen machen und sowas wunderbares erschaffen, kann ich nicht ausdrücken!

    Da kann ich noch so schräg drauf sein, eure Sachen zu lesen machen mich derart glücklich!

    Lieber Bill, ich hoffe, dass es dir schnell besser geht und du Tom erreichst. Vielleicht könnt ihr gemeinsam Gustav helfen? du musst stark sein. Für Gustav. Und für Tom. Und für dich selbst. Denn du bist. Bill. Bill Kaulitz. Kaulitz, weil ich es spüre, dass tief in dir drin dieser Name in deinem Herzen steht.

    Dein Schreibstil ist großartig!!
    In Liebe,
    Lisa

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  2. Oh Jule, das ist der Hammer. Schon wieder. Mir ist so ein Schauer über den Rücken gelaufen, also so wirklich. :D Ich hatte am Anfang Sorge, jetzt spannst du es so weit hinaus und brichst dann ab, bevor es rauskommt, aber das war dannn ja nicht so. (:

    Ich muss ja noch mal sagen, wie sehr ich es mag, wie du schreibst, das passt einfach perfekt und ich finde ehrlich, dass das total gut ist. Du schreibst immer irgendwie detailreich und so, dass man es sich wirklich gut vorstellen kann und das find ich echt toll (:

    Also ich denk mal, das hätte man schwer besser machen können, einfach so aufzugreifen, wie Bill sich fühlt, ich kann es mir wirklich ! gut vorstellen.

    Ich freu mich total - wie immer, wenn ich was neues lesen kann - und werd mir jetzt Gedanken machen, wie es wohl weiter gehen könnte (: Das ist wirklich ein super Teil und ich bin ja sooo froh, dass wir das machen!! <3 Ich lieb dich sehr, mach dir einen schönen Abend und ein tolles, langes Wochenende!! <3

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  3. Oh mein Gott (ja, ich kann es auch ausschreiben XD) - also, wow ... o_o sprachlos!

    Ich hab schon viele FF's gelesen und teils auch nur angefangen zu lesen, weil sie einfach total langweilig geschrieben waren.
    Das ist bei eurer nicht der Fall. Überhaupt nicht.

    Wie ich das erste Kapitel gelesen habe, hattet ihr mich schon. Ich wollte unbedingt wissen wie es weitergeht.
    Aber dann bin ich nicht mehr hinterhergekommen/ - whatever! Endlich habe ich gerade (mitten in der Nacht) die Zeit gefunden, eure Geschichte zu LESEN - nicht nur zu überfliegen und ich muss sagen: WOW!
    Was anderes fällt mir gerade nicht ein.

    Ihr alle habt einen wundervollen Schreibstil, leicht zu lesen und vor allem auch mitreißend zu lesen. Es ist wie auf einem Boot, dass auf einem Fluss fährt. Mit manchen Schreibstilen komme ich nicht klar, das Boot ruckelt und stößt immer wieder an unterirdische Steine. Aber nicht bei dieser Geschichte, das Boot fließt nur so mit dem Wasser.

    Und die Idee ... total klasse! Also mir gefällt sie (auch wenn es mir ehrlich gesagt, etwas im Herzen wehtut) und ich war auch oft den Tränen nahe, weil ihr die Situation in der Bill sich befindet, so gut beschreibt. Nicht nur die Situation, auch das drumherum, die Umgebung. Wobei ihr da auch das richtige Maß trefft, weil zuviel Beschreibung von der Umgebung würde ja die Geschichte verlangsamen und meinen ganz persönlichen Fluss stören XD

    Also ... schreibt bloß weiter =D Ich freu mich auf die nächsten Kapitel und schick jedem von euch ein Küsschen <3

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  4. jetzt bin ich hier und es ist nichts neues. Lusche. =D hahaha. ich komme spätestens morgen mittag nochmal gucken!

    In Liebe <3

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