Donnerstag, 27. Mai 2010

Kapitel 9

Es ist nicht passiert. Wirklich nicht. Ich hebe den Umschlag an und halte ihn direkt vor meine Augen. Dann drehe und wende ich ihn ein paar Mal. Es besteht kein Zweifel – der Umschlag ist verschlossen und der Inhalt bisher nicht gelesen worden, seitdem sein Absender ihn in diesen Umschlag geschoben und feinsäuberlich verschlossen hat. Wie perplex starre ich nun auf diesen kleinen, nicht weiter spannend aussehenden Papierumschlag.
„Ganz ruhig jetzt, Bill. Wenn der Brief zu ist, dann ist Tom nicht krank. Dann befindet er sich auch nicht in einer Klinik und dann wurde er auch nicht entführt und für tot erklärt oder was für eine kranke Scheiße in diesem Traum noch passiert wäre, wenn du länger geträumt hättest. Du hast keinerlei Nachricht erhalten, dass es Tom in irgendeiner Weise nicht gut geht“, flüstere ich ganz leise vor mich hin. Die Worte wirklich mit den Ohren aufzunehmen und sie dann vom Hirn verarbeiten zu lassen ist vielleicht effektiver als sie nur zu denken.
„Wie kommt mein Hirn überhaupt auf so eine Entführungsscheiße á la Maffiaverschwörung?!“ Ich erschrecke mich leicht, denn nach meiner kleinen Rede an mich selbst, mit der ich mich beruhigen wollte, war ich in ein grübelndes Schweigen verfallen. Ich hatte nicht beabsichtigt diese Worte überhaupt laut auszusprechen. Schon gar nicht in dieser Lautstärke.
Ich blicke auf und sehe, dass eine Frau mit einem kleinen Mädchen an der Hand mich empört anstarrt, während die kleine mich ganz offensichtlich interessiert und mit einem schiefen Grinsen auf dem Gesicht mit großen runden Augen anschaut.
„Tschuldigung“, murmel ich zerknirscht und schenke dem kleinen Mädchen ein Lächeln. Sie ist wirklich süß und scheint komplett unvoreingenommen. Ganz im Gegensatz zu der Frau, dessen Hand sie hält. Diese schaut mich nur noch weiterhin entrüstet an und ich kann förmlich hören, was sie gerade denkt.
Es wird sich um die Begriffe „diese jungen Menschen“, „verrückt“, „bestimmt Drogen genommen“ oder auch „vielleicht aus der Klinik am anderen Ende das Parks“, „hier draußen“, „kein guter Umgang“, „sie wird später nie allein durch diesen Park im Dunkeln gehen“ handeln. Da bin ich mir sicher.
Die junge Frau zieht das Kind nun mit sich weiter und versucht mit der Kleinen über irgendeinen Vogel dahinten auf der Wiese zu reden. Sie ist vermutlich in dem Alter, in dem das Sprechen gerade erst kommt. Das kleine Mädchen tappst brav mit der Mama mit, interessiert sich jedoch überhaupt nicht für diesen dämlichen Vogel, der in 50Metern Entfernung über die Wiese hüpft. Stattdessen dreht sie sich wieder zu mir um und grinst mich noch einmal mit diesem niedlichen Grinsen an. Ich lächel zurück. Dieses Mal ist es ein echtes Lächeln.
Ich merke es, weil es sich vollkommen ungewohnt, aber nicht erzwungen anfühlt. Mit meinem Blick liegt vermutlich etwas Schuldgefühl. Ich habe der Kleinen vermutlich das Leben als Heranwachsende ein wenig schwieriger gemacht, da ihre Mutter sie nicht abends in den Park lassen wird, wenn sie noch mal in die Stadt gehen möchte oder vielleicht den Park als Abkürzung auf dem Weg zu Freunden benutzen möchte.
Aber was soll’s?! So eine Herausforderung, wegen der man sich dann ordentlich mit den Eltern streiten kann, braucht man ja auch.

Die beiden biegen nun an der nächsten Weggabelung ab und verschwinden aus meinem Blickfeld. Plötzlich muss ich an meinen Bruder und mich denken. An die Zeit, als wir so klein waren wie das kleine Mädchen, kann ich mich natürlich nur bruchstückhaft erinnern. Aber plötzlich fallen mir Szenen aus unserer Kindergartenzeit ein.
Obwohl wir schon immer viel Scheiße angestellt haben, waren wir immer zusammen und haben uns gemeinsam dem Ärger der Kindergärtnerin und später dem unserer Mutter gestellt. Meistens, wenn wir anfingen zu weinen, weil wir angemeckert wurden, haben wir uns bis zum nächsten Morgen gemeinsam in einem unserer Zimmer verkrochen.
Mann, diese Zeit war, jetzt als Erinnerung betrachtet, so scheiß idyllisch – einem könnte glatt schlecht werden. Alles schien nach einer kleinen heilen Welt von zwei kleinen, rebellischen und unzertrennlichen Jungs, die jeden Tag kein größeres Ziel hatten, als ihre Kindergärtnerin auf die Palme zu bringen.
Später war es auch noch so. Nur dass die Leute, die Opfer unserer Rebellion gegen alles wurden, sich immer wieder änderten.
Mittlerweile ist das nicht mehr so. In diesem Moment hätte ich gerne diese Zeit wieder. Auch wenn man in diesem Alter Sorgen hat, die für einen kleinen Menschen mindestens genauso groß sind wie die Sorgen, mit denen sich die großen Leute rumschlagen. Ich würde jetzt trotzdem gern tauschen…
Ich reiße mich mit Zwang aus diesen melancholischen Gedanken. Wer weiß, sonst muss ich vielleicht wirklich noch vor lauter Idylle kotzen.
Meine Aufmerksamkeit gilt also nun wieder diesem kleinen, um einen mir unbekannten Inhalt gefalteten Stück Papier in meinen Händen.
Es ist alles nicht passiert. Du weißt überhaupt nicht, was darin ist. Das ist gut, dass das nicht passiert ist.
Doch die Erleichterung wird jäh von einer kleinen Welle der Panik begraben. Jetzt geht das Ganze von vorne los. Ich muss jetzt sozusagen wieder den Brief öffnen. Wieder mit größter Anspannung lesen, was ich darin finde und ich habe keinerlei Ahnung, was es sein wird.
Was, wenn der Inhalt noch schlimmer ist als das, was ich eben geträumt habe?
Aber mal ehrlich – wie kann der Inhalt noch schlimmer sein? Mein Zwillingsbruder todkrank entführt und für tot erklärt. Ich soll ihn retten und habe keine Ahnung wo er sein könnte.
Also bitte. Schlimmer geht es wohl nicht. Oder?    
Die Angst bleibt bestehen. Ich will diesen Brief eigentlich gar nicht öffnen.
Die Schrift auf dem Umschlag ist eindeutig von Tom. Eine Nachricht von ihm. Reicht es nicht zu wissen, dass er mir von irgendwo Nachrichten schicken kann?
Für den Moment reicht es. Ich stehe auf und stecke den Brief in meine Jackentasche, wobei ich ihn weiterhin festhalte, um ihn die ganze Zeit zwischen meinen Fingern spüren zu können. Langsam gehe ich los. Schritt für Schritt entferne ich mich von dieser alten braunen Bank, die sicherlich schon viel erlebt hat. Leute, die Pause machen. Leute, die glücklich sind. Leute, die verzweifelt sind. Leute, die nur sie als Bett benutzen können.
Ab jetzt ist es ein Mensch mehr, von dessen Leben sie einen Teil mitbekommen hat.
 Das Ende des Parks dürfte, sobald ich um die nächste Biegung gehe, die noch ca. 200 Meter entfernt vor mir liegt, langsam in Sicht kommen. Dann werden die Geräusche des Alltags mit jedem Schritt wieder lauter werden. Die Motorengeräusche. Das Hupen der Autos. Fahrradklingeln. Alles untermalt von einem monotonen, beinahe bedrohlich wirkenden Gemurmel der sich voranschiebenden Menschenmassen. Nur selten hebt sich eine laute Stimme gegen die Masse ab und schafft es aus ihr hervorzustechen. Mein Ziel wird das Gegenteil sein. Ich werde wieder versuchen müssen in der Masse unterzugehen. Unsichtbar zu werden.
Was ist der nächste Schritt? Ich muss Gustav helfen. Meinen Freund davor bewahren, dass seine Eltern ihm die Chance gewähren noch einmal sein Haus zu betreten, das jetzt nicht mehr von der Gefahr des Abrisses bedroht wird.
Das steht bereits fest. Weiterhin steht bereits fest, dass ich dafür aus meiner Starre erwachen und endlich wieder aktiv werden muss. Ich darf mich nicht mehr in dem Strom der Zeit und des Alltags treiben lassen, sondern muss anfangen zu schwimmen, um dahin zu kommen, wo ich hin will. Ich weiß noch nicht so recht, wie ich es anstelle zu schwimmen und wie ich an mein Ziel gelange. Aber immerhin weiß ich, dass ich schwimmen will und dass ich wieder ein Ziel habe.
Außerdem steht auch fest, dass ich meinen Bruder mit in dieses Vorhaben verknüpfen muss. Ich weiß es einfach tief in meinem Inneren, ohne dass ich sagen könnte, warum ich es weiß.
Jetzt bin ich gleich an der Biegung – 50m noch und dann nach der Kurve werde ich die Straße schon sehen. Hören kann ich sie bisher noch nicht. Vertieft in Überlegungen über mein nächstes Handeln setze ich einen Fuß vor den anderen.
Es gibt die Lebenseinstellung, dass man immer zunächst einmal handeln solle und im Nachhinein dann erst Überlegungen anstellen sollte, ob diese Handlung gut oder schlecht war und was man für die Zukunft daraus lernen kann. Vielleicht sollte ich das tun?
Ich lausche in mich rein. Leider habe ich keinen instinktiven Einfall. Da bleibt dann wohl doch wieder nur das Überlegen.
Plötzlich bleibe ich wie angewurzelt stehen. Mein Inneres wurde von einem Gedankenblitz durchzuckt. Vielmehr von einer Vorstellung.
Allerdings hat das nicht annähernd mit einer Lösung meines Problems zu tun. Angst durchfährt mich und innerhalb weniger Sekunden bildet sich kalter Schweiß auf meiner Stirn und meine Hände werden feucht. Ich umklammere den Brief in meiner Jackentasche und zerknittere ihn unweigerlich dadurch.
Ja, das ist ein Brief von Tom in meiner Tasche. Es ist eindeutig seine Schrift. Aber heißt ein Brief von Tom automatisch, dass er am Leben ist, egal was drin steht? Es ist doch immer wieder so, dass Menschen bei einem Anwalt oder Notar Briefe hinterlegen, die die Adressaten erst nach dem Tode erreichen sollen.
Mir wird schlecht. Dieser Gedanke kam wie aus dem Nichts, hat mich durchzuckt und mich innerlich verkrampfen lassen.
Kein guter Plan vorhin. Ich MUSS diesen Brief von Tom lesen. Sich einzureden, es würde schon halbwegs gut um ihn stehen, wenn er mir einen Brief zukommen lassen kann, ist Schwachsinn. Totaler Quatsch.
Mit zwei großen Schritten gelange ich zu einer Bank, die dicht vor der Abbiegung zum Ausgang des Parks jedem noch einmal die letzte Möglichkeit bietet in diesem Park vor dem Alltag und Lärm geschützt und versteckt zu bleiben.
Wieder sitze ich auf einer Bank. Wieder ziehe ich den Umschlag hervor.
Nachdem ich kurz auf die Schrift gestarrt habe, die schnell vor meinen Augen zu verschwimmen begonnen hat, drehe ich den Brief entschlossen um und öffne ihn. Ich werde diesen Brief jetzt ohne zu zögern lesen. Ich brauche Gewissheit.
Bevor ich in den Umschlag greife, kneife ich mir noch einmal kurz, aber fest in den Arm.
Aua! Scheiße, das war wirklich fest. Aber es tut weh. Alles bleibt unverändert. Es ist dieses Mal also kein Traum.
Jetzt ziehe ich den Inhalt des Umschlags hervor. Es sind zwei gefaltete Blätter.
Ich entfalte das obere Blatt und sehe mit dem Computer geschriebene säuberliche Schrift. Mit Briefkopf  und allem drum und dran, was einen offiziellen Brief ausmacht.
Ich hasse offizielle Schreiben. Kurzentschlossen lasse ich es in meinen Schoß zu dem nun leeren Umschlag fallen und entfalte das zweite Blatt.
Endlich. Es ist ein handschriftlicher Brief. Seine Schrift. Mein Name in der Anrede. Das werde ich zuerst lesen. War die Reihenfolge der Blätter wichtig? Sollte ich zunächst dieses offizielle Schreiben lesen oder war es einfach Zufall, dass es beim Öffnen vorne steckte?
Mir egal. Ich will den Brief. Den Brief von ihm an mich.

Mein lieber Bill!    
Fing der Brief im Traum nicht auch mit diesem Wortlaut an? Tom hat Briefe an mich, wenn er mir denn mal einen geschrieben hat, oft so angefangen. Wenn er Briefe schrieb, war es ihm wichtig und meistens etwas Sentimentales. So etwas fängt man dann wohl so an.


Ich hätte mich viel früher bei dir melden sollen. Ich weiß. „Hätte“ und „sollte“ sind sowieso die Wörter, die mein Leben und meine Gedanken derzeit bestimmen.
Ich habe es bisher nicht geschafft, mich nicht getraut, mich bei dir zu melden. Ich habe viel falsch gemacht. Eigentlich habe ich zum Ende hin wohl alles falsch gemacht.
Zum Ende hin?! Mir wird jetzt endgültig richtig schlecht. Ich zittere. Aber ich lese weiter.

Vermutlich siehst du es nach dieser Sache auch mit als größten Fehler an, dass ich gegangen bin. Ich würde es an deiner Stelle auf jeden Fall tun. Denken, dass ich dich allein und im Stich gelassen habe. Vielleicht habe ich das auch – aber nur mit dem Wissen, dass es anders nicht geht. Ich konnte nicht bleiben. Ich war geschockt über das, was passiert ist. Bin es immer noch. Geschockt, dass ich es war, der das alles verursacht hat. Der Schuld an der ganzen Sache ist.
Ich wollte nicht, dass noch mehr passiert. Dass am Ende dir auch noch etwas passiert.
Außerdem konnte ich niemandem mehr in die Augen sehen. Dir nicht, Mum und Gorden nicht, Andi und Georg nicht. Erst recht nicht Gustavs Eltern oder Franziska.
Ich hätte den Mut haben müssen für das Geschehene einzustehen, die Verantwortung zu tragen und dann anfangen müssen mich zu ändern. Mein Leben wieder auf die richtige Bahn zu leiten mit dem Wissen der Schuld. Ich konnte nicht.
Ich musste fliehen. Ich weiß nicht, ob es Feigheit, Selbstschutz oder Schutz der Menschen, die ich liebe, vor mir selbst war. Wahrscheinlich alles zusammen.
Bill, ich will mich ändern. Natürlich hat mich das Geschehene wachgerüttelt. Viel zu spät – das weiß ich. Dennoch hat es mich wachgerüttelt und ich weiß, dass es so nicht weitergehen kann und ich will nicht, dass es so weitergeht.
Aber ich muss das alleine machen.
Du hast allen Grund der Welt sauer auf mich und enttäuscht von mir zu sein. Alle anderen genauso – du aber wahrscheinlich doch am meisten.
Trotzdem weiß ich, dass du mir – egal wie groß deine Wut wäre – zu helfen versucht hättest. Du hättest versucht mir zu helfen mich zu ändern. Weil du einfach Bill bist. Du würdest mich nicht fallen lassen und wenn ich auch noch so scheiße bin.
Genau das wollte ich aber nicht. Was ich getan habe ist unverzeihlich und das Mindeste, was ich tun kann, ist, dass ich diesen Weg nun allein gehe. Dass ich mich nicht mehr bei dir oder jemand anderem blicken lasse bis ich die ganze Scheiße nicht endgültig hinter mir gelassen habe.
Deswegen bin ich weg.
Ich schreibe dir nun aus zwei Dingen. Einmal, weil ich möchte, dass du weißt, dass ich dabei bin mich zu ändern, dass ich weiß, was ich getan habe und diese Schuld immer mit mir tragen werde und dass ich dich liebe und brauche wie das nur bei einem Zwillingsbruder der Fall sein kann. Dass es mir Leid tut, was ich auch dir angetan habe.
Der zweite Grund ist ein banaler und bürokratischer Grund. Die Wohnung. Unsere Wohnung. Ich weiß nicht, ob du überhaupt noch dort geblieben bist – deswegen weiß ich nicht mal, ob der Brief dich erreichen wird. Wenn er dich jedoch erreicht, dann möchte ich, dass du die zwei beiliegende Schreiben unterschreibst.
Kurz unterbreche ich das Lesen und hebe den Kopf. Ich greife mit Daumen und Zeigefinger nach dem Schreiben in meinem Schoß und reibe leicht. Tatsächlich – es sind zwei Blätter, die ineinander gefaltet worden sind. Weiter.

Das eine Schreiben ist die Überschreibung der Wohnung an dich. Es war schon immer unsere Wohnung und in der Inneneinrichtung steckt dein Herzblut. Ich könnte nachvollziehen, wenn du dort nicht bleiben möchtest – doch dann sollst du wenigstens frei über sie verfügen können.
Es ist alles beglaubigt. Es fehlt nur noch deine Unterschrift, dann gehört sie dir.
Ich habe kein Anrecht auf diese Wohnung.
Das zweite Schreiben ist auch eine Überschreibung. Für den Großteil meiner Konten.
Keine Angst (wenn du sie denn überhaupt haben solltest), ich behalte meine normale EC-Karte und ein Konto mit Rücklagen, die ich brauche, wenn ich mich selbst erneuern will. Ich will aber nur noch das, was ich für diese Erneuerung brauche. Mehr nicht.
Deswegen sollst du den ganzen Rest haben. Du kannst damit machen, was du willst. Wenn du es nicht behalten willst, kannst du es verschenken, spenden oder es die auszahlen und aus dem Fenster auf die Straße regnen lassen. Ganz egal. Aber entscheide du, was damit passiert.
Ich will mich ändern, Bill. Wirklich. Ich will auch wieder zurückkommen, wenn ich es geschafft habe. Du fehlst mir sehr. Die anderen auch.
Aber natürlich liegt es nicht an mir, ob ich wieder zu dir stoßen kann.
Du bist derjenige, der das Recht hat darüber zu entscheiden. Ich weiß nicht, ob du mir verzeihen kannst. Wenn es an der Zeit ist, möchte ich zu dir kommen und dich darum bitten. Dann kannst du urteilen und ich werde es so akzeptieren müssen.
Willst du es von vornerein nicht, schreib bitte an den Notar, der auch die Überschreibungen beglaubigt hat. Die Adresse steht ja auf den beiden Schreiben.
Ich hoffe sehr, dass du mir eines Tages verzeihen kannst.
Such mich nicht, um mir doch beizustehen. Ich muss da alleine durch. Mir geht es in dem Sinne gut, dass ich gesundheitlich – abgesehen davon – wohl auf bin.  Dass ich nicht mehr mit dir zusammen sein kann, ist wohl auch eine Art der Strafe, die es zur Heilung benötigt.
Sollte aber etwas mit dir sein – solltest du meine Hilfe brauchen und wollen, weil es dir schlecht geht – dann wirst du mich finden. Das weiß ich.
Dann wirst du es schaffen mich ausfindig zu machen. Doch durch einfaches Nachfragen wird der Notar dir nichts sagen. Nur wenn du wirklich meine Hilfe brauchst – dann findest du einen Weg zu mir.


Pass bitte auf dich auf, Kleiner.
Dein Bruder Tom

Heilige Scheiße. Mein Kopf scheint jeden Moment explodieren zu können. So viele Gedanken sausen in ihm umher. Ich falte Toms Brief zusammen und stecke ihn gut weg, damit ihm ja nichts geschehen kann. Dann nehme ich in jede Hand eines der Schreiben, schüttele sie auseinander, starre sie an – und mein Kopf summt weiter.
Tom geht es gut. Er wird sich ändern.
Ein Strahlen stiehlt sich plötzlich in mein Gesicht und ich kann nicht anders als laut zu lachen. Ich sitze da und lache. Vor Erleichterung. Vor Glück. Weil er keine Krankheit hat. Weil er wohl auf zu sein scheint. Weil er sich ändern will.
Nach einer Minute des lauten Lachens verstumme ich plötzlich wieder.
Gustav ist nicht wohl auf. Gustav liegt weiterhin im Koma und seine Eltern haben vor die Geräte ausschalten zu lassen. Gustav rennt die Zeit davon und ich muss etwas tun.
Ich kann das innere Gefühl nicht abschütteln, dass ich mein Ziel auf gewisse Weise nur mit Tom erreichen kann.Welche Rolle mein Bruder bei dem Versuch Gustav zurückzuholen spielen wird, weiß ich nicht.
Aber Scheiße. Ich brauche seine Hilfe. Ob er das auch unter diesen Fall, in dem ich ihn suchen soll, zählt, weiß ich nicht. Das ist mir auch egal.Ich will wissen wo er ist.
Auch wenn ich noch nicht weiß, wie er mir helfen kann Gustav zu helfen.
Wie finde ich ihn? Wie rette ich Gustav? Wie kann man verhindern, dass seine Eltern…
Wie, wie, wie – unendlich viele „wies“ kreisen in meinem Kopf umher.
Feststeht, dass ich etwas tun muss. Endlich anfangen muss etwas zu tun, um nicht letztendlich doch nur dazusitzen und zu überlegen. Und vermutlich immer noch über ein „wie?!“ nachdenke, während im Krankenhaus jemand zu den Geräten geht, um sie nach der langen Zeit der Arbeit auszuschalten.
Ich muss also handeln und zwar jetzt. Die einzige Idee, die ich habe – zu der es wenigstens einen kleinen Anhaltspunkt gibt – ist die Suche nach meinem Bruder.
Vermutlich brauche ich dazu Geld und viel Ausdauer. Beides werde ich aufbringen.
Ich muss einen neuen Lebensabschnitt beginnen. Die Suche nach meinem Bruder.
Ein Ausschnitt aus dem größeren Lebensabschnitt „Gustav retten“.  Wiederum ein Teil der Mission „mach dein Leben wieder lebenswert, Bill Kaulitz“. 

Ich blicke zur Biegung. Dahinter liegt die Straße. Die Straße, auf der es keinen Stillstand gibt.

4 Kommentare:

  1. ich bin TOT! OH MEIN GOTT!
    das war der bisher beste Teil dieser Geschichte! Mit Kapitel 9 hat mien Herz so hoch geschlagen, ich bin so sprachlos!
    Ich musste wirkklich die ein oder andere Träne verdrücken (scheiße, warum bin ich nur so emotional?) vor allem als Bill den Brief las und das mit den Konten und der Wohnung - es war so gut.
    Dein Schreibstil ist der Hammer!

    Kotzen müssen vor Idylle? Einfach mehr als genial. Du hast mich umgehauen, begeistert. ich bin sprachloser denn je. die letzten neun Kapitel waren NICHTS dagegen!
    Der Brief, die Idee, der Schreibtsil - der absolute hammer! der letzte Satz ein Meisterwerkk. Ich bin so begeistert. Ich bin sprachlos!

    das ist ja der wahnsinn! (: Du bist toll toll toll: die idee ist prima. Ich finde es gut, dass jetzt doch erstmal das meiste gut zu sein scheint, man muss es ja nicht übertreiben mit schlimmen Dingen!

    Danke für dieses wundervolle Kapitel, ich bin richtig platt! (: danke danke danke.

    Bill, alles wird gut! Ich fühle das (:
    Tom ist der Tollste. Er wird das schaffen! Ich bin mir sicher <3

    Kuss, Lisa

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  2. Du schreibst wirklich fabelhaft. So leicht und so flüssig, ich weiß gar nicht wie ich das beschreiben soll. Teils sarkastisch, aber nie so, dass man den Hauptgedanken vergisst, wirklich klasse!

    Das Kapitel ist auch sehr schön, der Brief von Tom ... ach, irgendwie tut er mir Leid. Was auch immer er gemacht hat -(wird man das eigentlich erfahren?)
    Und das Ende ... grandios.
    <3

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  3. Wann kommt denn endlich das nächste Kapitel? :(

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  4. Hey Ihr:
    Bei meiner Seite hat sich so eben der Link geädert:
    http://misschrissi.blogspot.com/


    Eben so könnt ihr auf meinem Blog euer Musikvideo der Woche bestimmen
    diese Woche stehen zur Abstimmung :

    Tokio Hotel - Dark side of sun
    Lady Gaga - Alejandro
    Sido feat. Adel Tawil - Der Himmel soll warten
    Kary Parry feat. Snoop Dog - California Gurls

    Die Abstimmung geht noch bis zum 02.07.2010, 21:00 Uhr.

    Freu mich auf euren Besuch :)

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